Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
ein wenig ironisch. Werner grinst breit. Ich sage nur verlegen ja. Etwas anderes fällt mir nicht ein.
Aber Franziska sieht mich noch nicht mal an. Sie hat nur Augen für Werner.
Endlich sagt sie: »Ich muss weiter. Viel Spaß noch, und pass gut auf dich auf, Paula.« Was sollte das denn?
Werner zuckt mit den Schultern und nimmt meine Hand. »Komm, ich lade dich ins
Café Kleimann
an der Lambertikirche ein.«
»Prima«, antworte ich, »etwas Süßes ist jetzt genau das Richtige.«
An der Servatiikirche zieht Werner mich in das Halbdunkel des Portals und näher zu sich. Ich zittere, und er küsst mich. Sein Mund ist so weich. Ich könnte versinken. Der Kuchen ist vergessen.
Papa erwartet uns an der Haustür. Ich verabschiede mich von Werner, und er bedankt sich bei mir. Ich schlüpfe hinein und luge durch die Gardine. Vom Küchenfenster aus sehe ich Papa und Werner, in ein Gespräch vertieft, die Straße hinuntergehen.
Am Montag sind sie dann überall: die Judensterne. Ein Mann eilt an mir vorbei. Mit seiner Aktentasche versucht er den Stern zu verbergen, doch es gelingt ihm nicht.
Was ist mit Mathilda? Wie mag es ihr jetzt gehen? Warum meldet sie sich nicht? Sie ist nur Halbjüdin. Sie trägt diesen Stern wohl nicht. Oder doch? Hoffentlich meldet sie sich bald.
In der folgenden Nacht träume ich von ihr. Im Traum läuft sie schreiend davon. Wovor sie flieht, kann ich nicht erkennen. »Mathilda!«, rufe ich. Doch mein Ruf verhallt in der Schwärze der Nacht. Vielleicht ist Mathilda in Not, während ich mit einem Jungen händchenhaltend im Kino sitze. Ich habe Angst um sie. Ich muss etwas tun.
10. Du sollst nicht lügen
Pfarrer Burkhart ist heute von Kopf bis Fuß der freundliche, geduldige Lehrer. Er sitzt am Pult, hält sich mit beiden Händen an der Bibel fest und spricht über die Zehn Gebote. Seine randlose Brille rutscht wie immer auf die Nasenspitze, und seine wässerig hellblauen Augen wandern unermüdlich über die Tischreihen.
Seit den Sommerferien hat er es schwer in unserer Klasse. Der Bischof von Münster * , Graf von Galen, hatte offen von der Kanzel der Lambertikirche herab das Töten von Geisteskranken als Mord bezeichnet.
Gestapospitzel saßen im Gottesdienst und schrieben eifrig mit, was er predigte:
»Wenn es jetzt zunächst auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben. Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher.«
Die Menschen in der Lambertikirche saßen atemlos und mit Herzklopfen. Was würde jetzt passieren? Der Führer soll getobt haben, heißt es, doch dem
Löwen von Münster
, wie der Bischof genannt wurde, passierte nichts. Nicht einmal, als er beim Polizeipräsidenten Anzeige wegen Mordes erstattete.
Ich lief, als ich davon gehört hatte, mit Herzklopfen nach Hause. Meine Mutter sagte: »Siehst du, der Führer ist gar nicht so.« Und als Mutter das dreimal wiederholt hatte, beruhigte ich mich langsam.
Die Predigten werden heimlich verbreitet. Britische Flieger werfen sie als Flugblätter ab, habe ich gehört. Das findet mein Vater ungeheuerlich! Er spricht von schweren Bestrafungen für jeden, der dabei erwischt wird, und fügt hinzu, dass alles genau nach Gesetzesvorgabe erfolge.
Und meine Mutter sagt: »Der Führer wird es wissen. Er ist ein guter Mensch.«
Franziska jedenfalls hat Pfarrer Burkhart offen den Krieg erklärt. Sie sagte ihm, wer gegen den Führer predige, habe nichts mehr zu lachen, auch wenn man ihn dieses eine Mal geschont habe. Und der Bischof sei schließlich Pfarrer Burkharts Vorgesetzter. Wir hielten den Atem an. Pfarrer Burkhart wurde zornig und wollte Franziska für den Rest der Stunde bestrafen und in der Ecke stehen lassen. Aber sie machte ihm klar, dass ihr Vater nicht irgendwer in der Partei sei. Der Pfarrer begriff schnell, und seitdem wandern seine Augen noch unruhiger über unsere Köpfe.
Auch in der Klasse hat sich seitdem etwas geändert. Einige zeigen jetzt offen ihr Desinteresse, ja, ihre Verachtung gegenüber dem Fach Religion. Sie malen, zeichnen, lachen und stören. Da hat Pfarrer Burkhart einen schweren Stand.
»Ich weiß«, sagt er heute, »ihr kennt sie alle, die Zehn Gebote. Wir sollten uns von Zeit zu Zeit auf sie besinnen. Sie helfen uns, das Gute vom Bösen zu unterscheiden.«
Er legt die Bibel aus den Händen und erhebt sich. Dann verschränkt er die
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