Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
mir wird bald schwarz vor Augen. Aber ich setze tapfer Schritt vor Schritt.
»Der sensationelle Alfred Dompert läuft auf der Zielgeraden ein. Schnell wie ein Windhund, elegant wie eine Gazelle.«
Noch zweihundert, noch hundert Meter, noch zehn. Meine Knie sind weich, meine Beine schwer.
Hans reckt die Arme in die Luft. »Sieger! Sieger! So sehen echte Sieger aus.« Als ich eine kleine Ewigkeit nach ihm an unserem Ausgangspunkt ankomme, klopft er mir auf die Schulter. »Mensch, Schwesterchen«, japst er, »das machen wir morgen gleich noch mal.«
Ich bin vollkommen außer Puste. Aber es hat gutgetan. Ich sehe Hans an. Sein Kopf ist rot. Vor meinen Augen tanzen tausend Sterne. »Gütiger Himmel. Nie wieder, Hans! Nein, nie wieder.«
Am nächsten Morgen fühle ich mich ausgeruht und ausgeschlafen und freue mich auf den Nachmittag. Meine Mutter trällert in der Küche Schlagermelodien, und Hans schenkt mir wieder das strahlende Lächeln des Siegers. Er erkundigt sich nach meinem Befinden.
»Mensch, Hans. Du siehst ja unheimlich fertig aus«, necke ich ihn und streichele ihm aufmunternd seine borstigen Haare.
»Dass du noch lebst!« Er gibt es mir zurück. »Ein wahres Wunder.«
Nach dem Mittagessen gebe ich Mama einen Kuss und schnappe meine Tasche.
Ich gehe mit Werner ins Kino. Was für ein Gefühl! Ich schwebe die Treppe hinunter. Die Prinzessin verlässt das Schloss. Irgendwo in der Stadt wartet der Prinz. Hätte ich doch nur eine Kutsche. Nein, ein Pferd. Astra oder Mozart. Dann würde ich anspannen lassen.
Mein Drahtesel tut es aber auch. Am Kanonengraben richte ich mich im Sattel auf und mache einen langen Hals, um über den Zaun bei Schuberts schauen zu können. Die weiße Gartenbank steht auf der Terrasse, und niemand hat sich die Mühe gemacht, das gefallene Laub zu harken. Ein verlassenes Schloss, vernachlässigt, traurig und ohne Leben. Es versetzt mir einen Stich. Wohin sind sie bloß? Ich schwöre, in dieser Woche werde ich zu Berning fahren, den vertrauten Stallgeruch einatmen und Astra und Mozart besuchen. Vielleicht weiß er ja etwas über Mathilda. Egal, was passiert – ich werde es tun!
Ausgerechnet auf dem Weg zum Kino gibt es einen Voralarm. Ich überlege, ob ich umkehren soll. Ich weiß, dass meine Mutter sich Sorgen macht, wenn wir bei Angriffen in der Stadt sind.
Sie hat mir geholfen, die Zöpfe besonders schön zu flechten, und mir viel Spaß gewünscht. Ich habe versucht, meine Aufgeregtheit hinter Albernheiten zu verstecken. Mama hat mein Gesicht in beide Hände genommen und mir einen Kuss auf die Stirn gedrückt.
Ich denke, dass ich großes Glück habe mit meinen Eltern.
Frau Weber bewacht ihre Tochter wie ein Schießhund. Sie duldet noch nicht mal, dass Gertrud abends im HJ -Heim bleibt. »Wenn Mutter mich beim Herumknutschen erwischt, bin ich tot.« Gertrud lehnte im Türrahmen zu meinem alten Zimmer in der Sonnenstraße, als sie das sagte. Ich half ihr beim Einräumen. Wir sortierten ihre Kleider.
»Wie hältst du das aus?«, fragte ich, während ich vor der geöffneten Schublade meiner alten Kommode kniete und damit beschäftigt war, Gertruds Ringelsöckchen paarweise auf links zu drehen und ineinanderzustopfen.
Gertrud hielt mir zehn Finger unter die Nase. »Die Zehn Gebote« reichen manchmal nicht, sagte sie und zeigte mir ihren Daumen zusätzlich. »Das Elfte Gebot für solche Fälle heißt nämlich: Du sollst dich nicht erwischen lassen.« Und sie lachte laut auf.
Genau daran muss ich jetzt denken, als ich in die Ludgeristraße einbiege. Rechts von mir eiert die Straßenbahn quietschend über die Gleise. Die mit Eisen beschlagenen Räder eines Fuhrwerks rumpeln über das Kopfsteinpflaster. Der Kutscher schnalzt, das Pferd spitzt die Ohren und steht sofort still. Eine Windböe packt meine Haare …
Ich sehe Werner schon von weitem. Er steht unter dem Filmplakat. Die großartige Schauspielerin Marianne Hoppe – sie spielt die Franziska – schaut verträumt in die Ferne, während ihr Filmpartner Hans Söhnker – er stellt den Wochenschaureporter Michael dar – sie in den Armen hält. In großen, geschwungenen Buchstaben zieht sich der Filmtitel quer über das Plakat. Werner fährt sich nachdenklich mit der Hand über das Kinn. Dann zupft er an den Ärmeln seiner Jacke herum.
Mein Gott, denke ich, der ist ja aufgeregter als ich.
Werner geht zur Straßenecke und betrachtet die Auslagen des Hemdengeschäftes. Immer wieder schielt er die Straße
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