Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
gewartet hat, setzt seinen Unterricht fort, als wäre nichts geschehen.
Ein Gefühl von Unwirklichkeit befällt mich. Und doch ist es eine Tatsache, dass Herr Ackermann am helllichten Tag in einem schwarzen Auto weggebracht wird. Ich setze mich auf meinen Stuhl und spüre dabei Franziskas Blick in meinem Rücken.
Gertrud beugt sich zu mir und flüstert: »Ehrlich, du kannst über Franziska denken, was du willst. Aber sie ist keine Petze.«
Ich krame in meinem Federmäppchen. Mir geht Herr Ackermanns Blick nicht aus dem Kopf. Er hat mich angeschaut, bevor sie ihn in das Auto verfrachtet haben.
Die Autos, die Angst verbreiten. Ach Mathilda. Ich habe dir nicht glauben wollen, habe über deine Angst gelacht.
»Ruhe in der Klasse«, ruft Fräulein Steinbrede. Sie hat die nächste Stunde, Herrn Ackermanns Stunde, übernommen. Der Stock in ihrer Hand wippt auf und ab. Die Haare hat sie akkurat und streng unter ihr schwarzes Netz geschoben. Die hellgraue Bluse ist unter dem Kinn geschlossen. Der dunkelgraue Rock reicht fast bis auf den Boden und verdeckt die geschnürten, schwarzen Stiefel.
»Ihr habt gesehen, wie es einem Volksfeind und Judenfreund ergehen kann. Ich weiß, dass einige von euch den alten Ackermann gemocht haben. Mich als Lehrerin enttäuscht das, denn wir Lehrer haben in diesen Zeiten die ganz besondere Aufgabe, euch vor Lügen zu bewahren.« Sie hebt mahnend den Zeigefinger. »Ihr dürft die Volksgemeinschaft nicht aus den Augen verlieren. Sie steht über allem. Wer nur auf sich selbst schaut, verliert die Bindung zu anderen und damit zur Gemeinschaft.«
Ich bin überhaupt nicht bei der Sache. Ausgerechnet heute wiederholt sie auch noch Grammatik! Obwohl das eigentlich im Deutschunterricht Stoff der fünften und sechsten Klasse ist, fragt sie uns immer wieder zwischendurch überraschend ab. Und wehe, man zögert bei der Antwort. Kommt eine Form nicht wie im Schlaf, heißt das: Eintrag in ihr gefürchtetes Notizbuch. Wir sitzen in unseren Bänken, alle ziehen den Kopf ein, wollen nicht, dass ihr Stock auf sie zeigt. Doch die Steinbrede ist unerbittlich, nähert sich unserem Tisch und zeigt auf – Johanna. Ich atme erleichtert auf.
»Konjugiere:
Die brave Tochter hilft.
3. Pers. Indikativ: Präsens, Präteritum, Konjunktiv II : Präsens, Partizip II .« Sie redet so schnell, dass Johanna rot wird und stotternd beginnt: »Die … die brave Tochter hilft. Die brave Tochter half. Die brave Tochter … hm … hülfe? Partizip II , ge… ge-holfen.«
»Liebe Johanna, wenn du dir beim Helfen so viel Zeit lässt, wie du zum Konjugieren brauchst, könnte man dir beim Gehen die Schuhe besohlen.«
Alle lachen, und Johanna wird knallrot.
»Was gibt es da zu lachen? Glaubt ihr anderen, ihr könnt es besser?« Sofort wird es mucksmäuschenstill in der Klasse.
»Franziska, Futur I und II .«
»Die brave Tochter wird helfen. Die brave Tochter wird geholfen haben.« Das kommt wie aus der Pistole geschossen.
»Sehr gut, Franziska.« Und an Johanna gewandt: »Du kannst dich wieder setzen. Nimm dir ein Beispiel an Franziska.«
Die Steinbrede nimmt ihre Wanderung durch die Klasse wieder auf und bleibt vor mir stehen. »Schauen wir doch mal, ob du es besser kannst. Paula, dein Satz lautet:
Der Jude lügt.
Und setz noch ein
immer
dazu, dann ist es ganz richtig.« Ihre kleinen Augen funkeln mich an.
Ich stehe auf und beginne leise: »Der Jude lügt.«
»Lauter, wenn ich bitten darf, und das
immer
fehlt.« Fräulein Steinbrede wird ungeduldig. »Du hast doch keine Schwierigkeiten mit dem Satz?« In meinen Ohren klingt ihre Stimme jetzt scharf und boshaft.
»Der Jude lügt immer … Der Jude löge immer …« Ich kann mich nur schwer konzentrieren. Erst Ackermanns Verhaftung. War er wirklich ein Volksfeind? Und dann dieser schreckliche Satz. Ich muss an Mathilda denken! Ich habe ihr doch ewige Freundschaft geschworen.
»Der Jude …« Ich werde immer langsamer. Mathilda hat mich nie belogen. Wir haben uns immer alles erzählt. Und ihre Mutter? Reist mit gefälschten Papieren, versteckt sich. Natürlich ist das Betrug! Warum lässt Dr. Schubert sich nicht einfach scheiden und erspart Mathilda damit all die Schwierigkeiten, in denen sie jetzt steckt?
»Der Jude wird immer lügen.« Trotzig werfe ich die Sätze in die Klasse. Vor der Steinbrede knicke ich nicht ein. Doch im gleichen Moment überfällt mich eine tiefe Scham. Würde ich wollen, dass mein Vater meine Mutter verlässt? Papa, Mama,
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