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Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Titel: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Zöller
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Hände auf dem Rücken und wandert durch die Klasse.
    »Wer nennt mir das erste Gebot?«
    Nur wenige Mädchen hören zu. Einige dösen oder betrachten die Risse im Farbanstrich der Decke. Nur Anna, die sonst ganz still ist, ist aufmerksam dabei und meldet sich: »Du sollst keine fremden Götter neben mir haben.«
    »Richtig«, lobt Pfarrer Burkhart. »Ich möchte, dass ihr euch etwas Zeit nehmt. Denkt darüber nach, was dieses Gebot mit uns heute zu tun hat. Ist es in unserem Leben von Bedeutung?«
    Er streicht sich die Haare glatt und kratzt sorgfältig Kreideflecken aus dem Revers seiner Jacke. Nach einer Weile unterbricht er die Stille.
    »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut«, fährt der Pfarrer mit ruhiger, tiefer Stimme fort. »Nun, Gertrud. Was fällt dir dazu ein?«
    Gertrud scheint so gelangweilt, dass sie Pfarrer Burkhart gar nicht hört. Ich stoße sie an. Überrascht horcht sie auf, kritzelt keine Strichmännchen mehr.
    »Hast du meine Frage nicht verstanden?« Pfarrer Burkhart steht jetzt vor ihr.
    Ich will ihr helfen und halte ihr die gespreizten Finger meiner Hände unter die Nase. Zehn, will ich sagen, das zehnte Gebot.
    Doch Gertrud glotzt mich vollkommen verständnislos an. »Häh?«
    »Die Zehn Gebote haben nicht an Bedeutung verloren, Gertrud«, sagt der Pfarrer streng und schaut Gertrud über die Brillengläser an. »Hast du sie etwa vergessen? Du solltest dir schon etwas mehr Mühe geben.«
    Johanna meldet sich. Aber sie hilft Gertrud nicht aus der Patsche, sie bittet darum, zur Toilette gehen zu dürfen. Pfarrer Burkhart erlaubt es mit einer Handbewegung. Zu Gertrud sagt er, dass sie aufstehen solle, wenn er mit ihr redet. Gertrud erhebt sich schwerfällig und lustlos. Die Stuhlbeine schieben sich quietschend über den Holzboden.
    »Das zehnte Gebot, Gertrud. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut.«
    »Und wenn er kein Nächster ist?« Gertruds Stimme ist plötzlich klar und schneidend. Aus ihr spricht eine Entschlossenheit, die mich für einen Moment zusammenzucken lässt. »Was ist, wenn er Jude ist? Kann man einen Dieb bestehlen, der durch Raffgier und Zinswucher die Volksgemeinschaft schädigt?«
    Pfarrer Burkhart zupft an seinem Priesterkragen. Er will scheinbar etwas entgegnen, aber er räuspert sich nur. Dann schaut er auf die Holzdielen und spitzt die Lippen. Er sucht nach einer passenden Antwort. Es wird still in der Klasse. Pfarrer Burkhart kramt in seiner Hosentasche und findet ein Stück Kreide. Er geht zur Tafel und betrachtet die Kreide in seinen Fingern. Aber er schweigt weiter. Ich seufze tief und laut in das Schweigen hinein. Mir ist unbehaglich.
    »Ja, Paula, willst du uns etwas sagen?« Pfarrer Burkhart kommt auf mich zu.
    Im gleichen Augenblick wird die Klassentür aufgerissen. Johanna stürzt herein.
    »Schnell zum Fenster! Die Gestapo ist bei uns in der Schule!«
    Bewegung kommt in die Klasse. Einige Mädchen stürmen zum Fenster. Stühle fallen um. Stimmengewirr erfüllt den Raum. Franziska steht hinter mir und macht einen langen Hals. Auf dem Schulhof steht ein Auto. Zwei Männer in schwarzen Mänteln haben Herrn Ackermann in ihre Mitte genommen. Einer hält ihn am Oberarm fest. Der andere trägt Ackermanns Aktentasche. Herr Ackermann schaut zu unseren Fenstern hoch. Ich habe das Gefühl, er sieht mich an. Er trägt eine helle Jacke. Seinen Hut hält er in der linken Hand. Er bückt sich und wird in den Wagen geschoben. Der Mann mit der Aktentasche setzt sich neben ihn. Die Tür schließt sich. Der andere Mann klettert auf den Fahrersitz hinter das Lenkrad.
    »Meine Güte«, sage ich, »was hat der denn verbrochen?«
    »Nun tu mal nicht so überrascht«, sagt Franziska. »Dass der sich um Kopf und Kragen redet, war doch von Anfang an klar.«
    »Hast du was damit zu tun?«
    Franziska sieht mich böse an. »Spinnst du? Ackermann ist garantiert nicht mein allerbester Freund. Aber ich würde niemals jemanden verpfeifen, nur weil mir seine Meinung nicht passt.« Lachend fügt sie hinzu: »Der hat doch bestimmt noch ganz andere Sachen auf dem Kerbholz. Oder denkst du, die machen wegen seines philosophischen Geschwätzes so ein Theater? Wie hast du ihn genannt? Einen harmlosen, schrulligen alten Mann? Aber scheinbar ist er doch alles andere als das.« Das Auto fährt vom Hof.
    Ich habe plötzlich Herzklopfen und gehe, ohne mir etwas anmerken zu lassen, an meinen Platz zurück.
    Pfarrer Burkhart, der mit der Kreide in der halb erhobenen Hand

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