Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
Werner sieht mich als
Verräterin
!
Der kalte Regen schlägt mir ins Gesicht. Das macht das Ganze fast erträglicher, denn ich schäme mich. Meine Füße werden kalt, der Regen dringt durch meine Jacke. Das schwarze Auto ist verschwunden. Nichts regt sich mehr. Ich warte noch einen Moment, raffe mich dann auf und gehe am Polizeipräsidium vorbei. Nichts, was drinnen vorgeht, ist von draußen zu erahnen. Das Einzige, was ich durch die Fenster sehe, sind Männer, die vor Aktenbergen an ihren Schreibtischen sitzen und im gelben Licht der Tischleuchten in Kaffeetassen rühren. Ich habe es nicht mehr eilig. Über mir ist nur der schwarze Himmel, und unter mir glänzt der nasse, dunkle Asphalt. Langsam schiebe ich mein Fahrrad neben mir her.
Vor der Unterführung an der Warendorfer Straße steht nur noch der alte Mann im Torbogen und stützt sich auf seine Kohlenschaufel. Er raucht eine Zigarette. Der Regen fällt auf den Kohlehaufen und spült schmutzige Rinnsale auf das Pflaster. Sie sehen aus wie Tränenbäche. Die Stimme der Frau quillt aus dem Kellerfenster und will wissen, wann es endlich weitergeht. Ich bin durcheinander und wütend und trete nach einem Kohlenstück. Es knallt an die Tunnelmauer, und zugleich spüre ich einen stechenden Schmerz in meinen Zehen. Mein Fahrrad rutscht mir aus der Hand und fällt um. Der Mann ruft mir etwas zu. Es hört sich an wie: »Finger weg von meinen Kohlen!« Ich beachte ihn nicht und höre auch nicht auf das Gezeter der Frau im Keller. Sie sind so weit weg.
»Wo kommst du her?« Meine Mutter klingt mehr besorgt als wütend. »Und wie siehst du denn aus? Du bist ja pitschnass.« Sie hat mich erwischt, als ich versuchte, die Treppe hochzuschleichen.
»Mir ist kalt. Außerdem ist mir schlecht. Und mein Fuß tut weh.«
Mama lässt mir ein Bad ein und bringt mich nach dem Baden ins Bett. Ich besitze jetzt einen flauschigen, dunkelblauen Bademantel mit Kapuze. Wenn man sich in so einen Mantel einkuscheln kann, ist das Frieren fast gemütlich. Mama bringt mir Tee und steckt mir eine Wärmflasche unter die Bettdecke. Ich bin müde und erschöpft und schlafe den Rest des Tages. Im Halbschlaf spüre ich, dass Mama zwischendurch meine Stirn fühlt. Aber sie lässt mich schlafen.
Verräterin!
Dieses Wort will mir nicht aus dem Kopf. Ebenso wenig wie das Geräusch, das der Kopf des Jungen machte, als er gegen die Tür stieß.
Abends bringt meine Mutter mir Suppe, und später schaut Papa nach mir. »Hallo, du Schlafmütze. Was machst du für Sachen?« Ich erzähle ihm, dass mich der Regen überrascht hat und ich mich nirgendwo unterstellen konnte. Es ist nicht einmal eine Ausrede. Alles andere verschweige ich.
»Ja, ja, der Regen«, sagt er. »Der kam ganz plötzlich. Fast hätte es mich auch erwischt.« Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Du hast Fieber. Schlaf dich aus.«
Papa hat mich offenbar nicht gesehen und den Jungen wohl auch nicht.
Er bleibt in der Tür stehen: »Wir haben heute einen dieser Burschen erwischt, die du mit Werner beobachtest hast. Ich glaube, wir werden bald das ganze Rattennest ausheben.«
Ich erschrecke, weil er also doch von dem verhafteten Jungen weiß, und setze mich aufrecht.
»Was hast du eigentlich mit Werner neulich Abend besprochen? Du weißt schon, als ich mit ihm im Kino war.«
Papa kommt zurück und setzt sich auf mein Bett. »Hast du Ärger deswegen?«
»Ich glaube, Werner hält mich für eine Petze, weil ich mit dir über die Swingheinis geredet habe. Und sie haben Norbert vermöbelt, weil der einen Witz über den Führer gemacht hat.«
»Das sieht ihm ähnlich. Und natürlich ist meine Tochter keine Petze.« Er kneift mir leicht in die Backen. »Aber es geht nicht, dass Werner einen Privatkrieg führt. Er muss sich an die Gesetze halten, wie jeder andere auch. Nur so können wir unsere Maßnahmen geordnet und diszipliniert durchführen. Soll ich mir den Burschen mal vorknöpfen?«
»Nein, Papa. Bitte nicht. Was passiert mit dem Jungen, den ihr erwischt habt?«
»Nun ja, wir werden ihm klarmachen, dass er gegen Gesetze verstoßen hat. Aber ihm wird schon nicht allzu viel passieren. Wir reden ein ernstes Wörtchen mit ihm. Mit ihm und seinen Kumpanen.« Papa steht auf und sieht sich in meinem Zimmer um. »Frau Weber wird Mutter demnächst hier im Haus zur Hand gehen. Sei so nett und sorge dafür, dass dein Zimmer aufgeräumt ist, wenn sie kommt. Und kümmere dich doch etwas mehr um Gertrud. Die Familie hat es nicht leicht,
Weitere Kostenlose Bücher