Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
auf ihrem Wagen mitfahren lassen. Sie halten, steigen gemächlich ab und verschwinden in der offenen Tür. Möbelstücke, aufgerollte Teppiche und Bilder werden aufgeladen. Ich krieche zurück in mein Bett, auch wenn ich jetzt eigentlich aufstehen müsste.
Ich muss noch einmal eingeschlafen sein, tief und fest. Eine Hand legt sich auf meine Stirn. Davon werde ich wach.
»Wie geht es dir heute Morgen?«, fragt mein Vater besorgt.
»Es geht mir wieder gut, Papa«, sage ich beruhigend. »Das Fieber ist weg.«
»Dann raus aus den Federn, komm zum Frühstück!« Kaum ist er zur Tür hinaus, springe ich aus dem Bett und stürze ans Fenster. Auf der Straße ist es ruhig. Alles scheint wie immer. Das Haus gegenüber liegt dunkel verlassen im trüben Morgenlicht. Die Tür ist geschlossen. Das Pferdefuhrwerk ist verschwunden. Im Rinnstein liegt der Hut, schmutzig und verbeult. Es ist also wahr. Ich habe das alles nicht geträumt.
»Papa«, rufe ich die Treppe hinunter, »Papa!«
Er kommt zurück und stellt sich zu mir ans Fenster.
»Du hast doch heute Nacht zugesehen. Oder?«
Er unterbricht mich. Er weiß sofort, wovon ich spreche. »Das waren die letzten Juden in dieser Straße. Und es geht nicht, dass zwei alte Menschen allein so ein großes Haus bewohnen, während ausgebombte deutsche Volksgenossen keine Bleibe mehr haben.«
»Aber die Polizisten waren so … grob«, stottere ich.
Papas Hand liegt auf meiner Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Paula. Es hat alles seine Ordnung.«
»Ich mache mir ja gar keine Sorgen. Und ich weiß, wir haben schließlich Krieg. Aber …«
»Völlig richtig«, sagt Papa.
Doch das Bild von Frau Marcus schiebt sich in meinem Kopf immer wieder nach vorne.
Den Vormittag verbringe ich im Bett. Mir ist kalt. Manchmal nicke ich ein. Wenn ich erschrocken aufwache, kann ich mich nicht an den Traum erinnern.
Mein Blick fällt auf meinen alten Puppenwagen. Etwas lieblos habe ich ihn in eine Ecke gestellt. Brumms Beine hängen aus dem Wagen, und Mona liegt quer über dem Kissen auf dem Bauch. Ich lausche auf die Geräusche im Haus und auf der Straße. Mein Herz rast. Die Laken sind schweißnass. Mama hat mir Tee und Zwiebäcke hingestellt. Plötzlich halte ich es nicht mehr aus. Fluchtartig verlasse ich mein Zimmer und gehe in die Küche.
Mittags sitze ich mit Mama und Hans auf der Eckbank am Tisch. Es gibt Hühnersuppe mit Einlage. Dicke Fettaugen schwimmen darauf. Das frische Brot duftet, und Mama hat sogar richtige Butter aufgetrieben. Der Volksempfänger schweigt, und ich bin dafür dankbar. Mutter meint mit besorgtem Blick, dass mir frische Luft bestimmt guttun würde. Vielleicht ein kurzer Spaziergang zur Sonnenstraße?
»Ich sage das nicht ohne Hintergedanken. Ich habe ein paar Kleinigkeiten für Frau Weber, Gertrud, Eva und Theresa zusammengepackt. Bettwäsche, Handtücher, Töpfe, Geschirr. Du weißt schon: Sachen, die sie in unserem Haus gebrauchen können.«
Ich muss lächeln. Mama hat »unser Haus« gesagt. Sie hat es auch gemerkt.
»Ja, es ist schon komisch. Irgendwie ist es immer noch unser Haus. Ich habe nur gute Erinnerungen an die Zeit und denke gerne daran.«
Ich greife nach ihrer Hand. Unsere Blicke treffen sich. Sie hat recht. Wenn ich an die Sonnenstraße denke, kommt es mir so vor, als hätten wir damals viel mehr Zeit gehabt, als wäre alles viel langsamer passiert. Ruhiger. Ich sehe immer noch, wie sich die Vorhänge in der Küche sanft und leicht in der warmen Frühlingssonne bewegen, höre das bedächtige Ticken der Uhr. Damals? Ich habe tatsächlich »damals« gedacht. Jetzt scheint alles viel schneller zu gehen. So viele Dinge passieren, nehmen ihren Lauf. Zufällig wie Blitzeinschläge. Man kann sich nicht dagegenstemmen. Mama und ich seufzen gleichzeitig. Hans lässt den Löffel sinken und starrt uns überrascht an. Wir müssen lachen. Etwas verlegen. Als hätte er uns ertappt.
»Wenn ihr wollt und Mama mit dem Abwasch alleine zurechtkommt, gehe ich mit«, sagt Hans. »Wir nehmen den Bollerwagen. Ich könnte in unserem Garten nach dem Rechten sehen. Nur so. Ich meine, jemand muss sich ja kümmern.« Hans rührt in der Suppe und fischt nach Hühnerfleisch. »Schon komisch. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich das mal freiwillig tun werde.«
»Ach Kinder.« Mama klatscht in die Hände. »Wenn euer Vater uns so sähe. Er könnte uns für undankbar halten. Hier in der Salzstraße beginnt unser Weg in die neue Zeit. Die Zukunft gehört
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