Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
aufgetragen.
Sie
hat
Lippenstift aufgetragen!
»Franziska, wisch dir sofort die Schmiere aus dem Gesicht. Eine deutsche Frau schminkt sich nicht.«
Franziska sieht mich erstaunt an. Mit Widerstand von mir hat sie wohl nicht gerechnet. Während sie sich mit einem Taschentuch den Lippenstift abwischt, antwortet sie Gertrud und lässt mich dabei nicht aus den Augen. »Frag sie doch selbst, Gertrud. Frag sie nach Werner oder besser noch: Frag sie nach den Swingheinis.«
Unmerklich zucke ich zusammen. Aber ich bringe es fertig, völlig ungerührt zu sagen: »Das mit der Schminke zieht eine Verwarnung nach sich, Franziska. Für die Stunde am Samstag bereitest du ein Referat vor. Thema: Warum eine deutsche Frau sich nicht schminkt.«
Danach ist kein Triumph mehr in ihren Augen. Sie kocht vor Wut. Doch das ist mir egal. Und ich kann es mir nicht verkneifen, noch hinzuzufügen: »Ach übrigens, wenn du mit mir als Schaftführerin nicht fahren willst, dann bleib doch einfach zu Hause. Ich hätte nichts dagegen.« Und zu den anderen gewandt, sage ich: »Jetzt würde ich gerne über die Fahrt sprechen …«
Nach der Stunde bleibt Franziska auf ihrem Stuhl sitzen.
Gertrud steht in der Tür. »Kommst du, Paula?«
Ich schüttele den Kopf und gebe ihr zu verstehen, dass sie gehen soll.
Franziska ist ernst und ruhig. Sie lehnt sich zurück und schaut mich mit wachsamem Blick an. Ihre Augen strahlen eine Kälte aus, die ich an ihr bisher noch nicht wahrgenommen habe. Ich warte schweigend, was sie als Nächstes tun oder sagen wird. Innerlich gehe ich in Deckung.
»Nur damit das klar ist: Lass deine Finger von Werner«, zischt sie mich an.
Ich erwidere kühl ihren Blick. »Warum gehst du nicht nach Hause, Franziska? Der Heimabend ist vorbei.«
Sie steht auf und kommt auf mich zu. Ich kann ihren Atem spüren. »Du benimmst dich wie eine Jüdin, Paula.«
Da höre ich mich sagen: »Raus hier!« Ich lausche voller Verwunderung meiner eigenen schneidenden Stimme.
Am Abend stehe ich im Badezimmer vor dem großen Spiegel. Er ist an den Seiten geschliffen, und ein Lüster spiegelt sich darin mit tausend Lichtern. Ein Mädchen mit langen blonden Haaren und träumerischem Blick schaut mich an. Ich werde wegen Werner keine Tränen vergießen, das nehme ich mir fest vor. Soll er doch glücklich werden mit Franziska!
Franziska. Wie erwachsen sie aussah. Es geht mir nicht aus dem Kopf. Und wie kindlich ich aussehe. Diese braven Zöpfe. Dieser artige Mittelscheitel. Dieses unschuldige Kleinmädchengesicht. Was wäre, wenn ich mir die Haare kurz schneiden ließe? Gerade und kurz, wie ein Junge. Sähe ich dann reifer aus als Franziska? Interessanter? Sogar ernsthafter? Ich stelle mir schon Mamas Erstaunen vor. »Wo sind deine Zöpfe geblieben? Wie konntest du nur?« Vielleicht gefällt es ihr aber auch. Wer weiß das schon.
Aber mein Vater wäre garantiert entsetzt. Tatsächlich liegen bei einigen Friseuren Fotos aus, wie der Führer sich
deutsche Köpfe
wünscht. Und Papa ist da eher altmodisch. Aber ich will das nicht mehr. Ich bin kein harmloses Zopf-Lieschen, sondern modern, mit eigenwilligem Haarschnitt. Und sich die Lippen schminken – das kann nicht nur Franziska!
Ich schaue noch eine Weile in den Spiegel, halte meine langen Haare hoch und stelle mir kurze Haare vor. Ich lächle mein neues Spiegelbild an und strecke mir selbst die Zunge raus. Dann male ich mir das entgeisterte Gesicht meines Vaters aus und muss unwillkürlich grinsen. Vor mich hinträllernd verlasse ich das Badezimmer.
Oben am Treppenabsatz bleibe ich stehen. Papas Zimmertür ist angelehnt, Licht fällt in den dunklen Flur, und ich höre undeutlich seine Stimme. Neugierig schleiche ich die Treppe hinunter. Die Stimme wird deutlicher, er telefoniert.
»Der Gertrudenhof wird als Sammelstelle für die Münsteraner Juden und die aus dem Umland eingerichtet. Das ist bereits entschieden.« Er holt tief Luft und spricht mit klarer Kommandostimme in den Hörer: »Jetzt hören Sie mir gut zu, und schreiben Sie mit. Erstens: Der Transport findet am 13. Dezember statt. Am Abend vorher, gegen zweiundzwanzig Uhr, müssen alle namentlich erfasst sein. Dann transportieren wir sie in Omnibussen zum Bahnhof und verladen sie in die Züge. Das wird wohl einige Zeit in Anspruch nehmen. Der Zug fährt am 13. Dezember planmäßig gegen Viertel nach zehn Uhr Richtung Bielefeld.
Zweitens: Mitnehmen dürfen sie 50 Reichsmark, einen Koffer mit persönlichen Gegenständen,
Weitere Kostenlose Bücher