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Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel

Titel: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Zöller
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vollständige Kleidung, Bettzeug und Decke, Verpflegung für drei Wochen, Essgeschirr.
    Drittens: Wertpapiere, Devisen, Silber, Platin, Gold, mit Ausnahme des Eheringes, Messer, Gabel und Rasierzeug sind abzugeben. Sie sorgen dafür, dass das Gepäck darauf durchsucht wird.
    Viertens: Die Juden tragen die Fahrtkosten nach Riga selbst, das sind 55 Reichsmark pro Person.«
    Er wird anscheinend unterbrochen. Einen Moment schweigt er, dann spricht er weiter. »Ja, genau. Am Güterbahnhof. Die Transportnummern stehen mit Kreide jeweils auf den Wagen. Ich werde bei der Verladung dabei sein, keine Sorge.«
    Papa hat schon oft davon gesprochen, dass Münster bald judenfrei sein wird. Auch von Arbeitslagern war die Rede. Aber dass er selbst die Transporte organisiert, habe ich nicht geahnt. Ich lausche weiter, fürchte mich allerdings vor dem, was noch kommen könnte.
    Der andere sagt etwas. Mein Vater antwortet: »Nein, nein, viel zu aufwendig. Je Waggon ein Eimer sollte genügen.« Wieder eine Pause. »Gut, das wäre dann alles. Wir sehen uns morgen.« Er legt den Hörer auf die Gabel.
     
    Am nächsten Morgen gehe ich nicht sofort hinunter. Ich setze mich auf die oberste Treppenstufe und lausche auf die vertrauten Geräusche in der Küche. Mama klappert mit dem Geschirr. Papa bespricht mit Hans, wann und wo sie Holz für den Ofen beschaffen können. Der Volksempfänger spielt Schlager. Heinz Müller singt:
»So schön wie heute …«
Alles ist gut, alles ist wie immer. So hätte ich es gern.
    Mein Vater räuspert sich: »Ich werde heute nicht abgeholt. Ein Spaziergang ab und zu wird mir nicht schaden.« Mama lacht und sagt etwas.
    In diesem Moment steht mein Entschluss fest: Ich werde ihm nachschleichen. Ich werde versuchen, herauszufinden, was mit dem Swingjungen passiert ist. Ich muss wissen, was mein Vater damit zu tun hat.
    Nach einem kurzen »Guten Morgen« in der Küche und einer Scheibe Brot täusche ich Eile vor.
    »Oh, schon so spät«, murmle ich und verlasse vor meinem Vater das Haus. Ich suche mir einen Hauseingang, von dem aus ich unsere Tür im Auge behalten kann. Die Aufregung lässt meine Hände zittern. Ein wenig fühle ich mich wie dieser Emil, aus Kästners
Emil und die Detektive
. Hans hat mir die Stelle vorgelesen, wo Emil dem Mann mit dem steifen Hut in die Straßenbahn bis hin zum
Hotel Kreid
am Nollendorfplatz folgt. Er erzählt mir immer, wie es mit Emil und seinem geklauten Geld weitergeht. Allerdings ist Emil nicht allein, er bekommt Unterstützung von Pony Hütchen, dem Jungen mit der Hupe, Gustav und vielen anderen Kindern.
    Ich jedoch bin allein und habe ein ungutes Gefühl bei dem, was ich hier tue. Ich bespitzle meinen eigenen Vater. Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr.
     
    Die Jacke über die Schultern geworfen, ziehe ich mir die Kapuze tief in die Stirn. Mit dem Tornister darunter und den schlackernden Ärmeln sehe ich wahrscheinlich aus wie die Tochter des Glöckners von Notre-Dame. In dem Aufzug wird mein Vater mich bestimmt nicht erkennen. Ich muss Abstand halten und mich immer wieder in Hauseingänge verdrücken. Auf keinen Fall darf er mich erwischen!
    Er tritt aus der Haustür und wirft einen prüfenden Blick in den regnerisch grauen Himmel. Er hält einen Moment inne, richtet mit der rechten Hand seinen linken Lederhandschuh. Uniform und Stiefel hat er angezogen, trägt aber keinen Mantel. Zu meiner Überraschung wendet er sich in die Telgter Straße. Der kürzeste Weg zu seiner Dienststelle führt eigentlich über den Servatiiplatz und die Wolbecker Straße. Ich folge ihm. Er scheint keine Eile zu haben. Fast hat es den Anschein, dass er spazieren geht. Die Uniform macht ihn größer, als er in Wirklichkeit ist. Sein Gang ist federnd, auch jetzt, als er nur bummelt.
    Auf der Mauritzstraße ragen die Ruinen anklagend in die Luft. Die Straßen sind längst frei geräumt, und zwischen den Schuttbergen steht ein Bagger. Arbeiter stapeln Steine oder schleppen Balken. Manche Fassaden stehen noch, aber man kann durch die kaputten Dächer in den Himmel sehen. Die Menschen, die hier überlebt haben, mussten die Stadt verlassen und leben jetzt in Notquartieren auf dem Land.
    Mein Vater geht auf die Bauarbeiter zu und grüßt mit erhobenem rechtem Arm. Er sagt etwas zu ihnen, und die Arbeiter lachen. Er verlässt die Baustelle und biegt in die Eisenbahnstraße ein. Vor dem Schaufenster einer Buchhandlung bleibt er erneut stehen. Sein Blick schweift über die Auslage. Nordische Märchen-

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