Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
und Heldensagen sind dekoriert mit Dolchen und Hakenkreuzfahnen.
Heute hat er es wirklich nicht eilig. Einer Frau, die neben ihm steht, fällt ein Handschuh auf den Gehweg. Er bückt sich und überreicht ihn ihr lächelnd. Dann sieht er auf seine Armbanduhr und beschleunigt seinen Schritt
Er betritt das Haus in der Gutenbergstraße. Ich verberge mich wieder in einem Hauseingang. Das klotzige Bauwerk liegt schräg gegenüber. Alle Fenster sind verschlossen und vergittert. Und über mir wölbt sich der weite graue Himmel. Worauf warte ich hier eigentlich? Ich lausche, ich beobachte, ich phantasiere … Aber nichts Ungewöhnliches geschieht. Doch ich will noch bleiben, weiter geduldig warten. Jedes Gefühl für Zeit geht dabei verloren.
Plötzlich zucke ich zusammen. Im Keller des Hauses gegenüber wird ein Fenster schräg gestellt.
»Man bekommt ja hier keine Luft«, sagt eine fremde Stimme.
»Du hast recht. Hier stinkt es wirklich bestialisch.« Das ist doch die Stimme meines Vaters! Was macht er dort unten im Keller? Sein Büro ist doch im ersten Stock. Ich will unbedingt wissen, was da unten vor sich geht. Aber selbst wenn ich den Hals lang mache: Ich kann nichts sehen. Die Stimmen entfernen sich. Alles ist wieder ruhig. Ein schwarzes Auto fährt vor. Dieses Mal steigt niemand aus. Die Tür des Hauses öffnet sich weit. Zwei Uniformierte treten hinaus. Sie schleppen ein Bündel Mensch zum Auto. Die Haare sind abrasiert, das Gesicht blutig, verquollen. Ich erkenne ihn trotzdem.
Mein Vater verlässt nach ihnen das Gebäude, und ich höre, dass er etwas zu den beiden Männern sagt. Doch ich verstehe nicht, was. Ich sehe nur, dass sie den Jungen nicht mehr ganz so grob anfassen, Papa reicht ihm sogar ein Taschentuch. Er hat mir doch versprochen, dass sie dem Jungen nichts tun! Ein ernstes Wörtchen wollten sie mit ihm reden, mehr nicht. Dass sie ihn verprügelt haben, damit hat er garantiert nichts zu tun!
Der Geschmack von Schuld brennt trotzdem auf meiner Zunge. Ich schäme mich. Natürlich ist der Junge ein Abweichler, und jemand muss ihn auf den richtigen Kurs bringen. Dafür ist die Polizei schließlich da. Und trotzdem … Nicht so. Das kann nicht richtig sein. Das kann auch nicht nach dem Gesetz sein, wie mein Vater immer betont.
Wie betäubt laufe ich heim. Um mich herum geht das Leben weiter. Eine Mutter schimpft mit ihrem Kind, aus einem Gemüseladen dringt Stimmengewirr, irgendwo läuten Kirchenglocken, ein Auto hupt, ein Radfahrer fährt klingelnd vorbei.
In meinem Zimmer gehe ich ruhelos umher. Ich mag kein Licht machen, nicht nur wegen der Verdunklung. Ich möchte mich nicht im Spiegel sehen. Ich habe Angst, dass das blasse Gesicht des Jungen sich darüber legt. Dass es mich so verunstaltet ansieht. Ich schaue aus dem Fenster, als könnte ich dort in dem ruhigen Dämmerlicht eine Erklärung für das alles finden. Mein Blick schweift in Richtung Geheimbriefkasten – und ich kneife meine Augen zusammen.
Ist das dort nicht Herr Berning? Der Mann in der beigen Jacke verschwindet zwischen den Bäumen. Außerdem versperren mir jetzt Häuser die Sicht. Aber ich könnte schwören, dass er es war: die gleiche Statur, der leicht hinkende Gang.
Was tut er da? Ist er etwa der »geheime Bote«?
14. Der geheime Bote
Noch zwei Tage bis zu den Ferien und dem ersehnten Landeinsatz in Nottuln. In der Schule knarren die Treppen, das Bohnerwachs lässt das Holz glänzen. Die Klasse liegt im Schatten eines Kastanienbaums, der schwer ist von Früchten und sie nach und nach abwirft. Lust auf Unterricht hat niemand mehr so kurz vor den Ferien. Darum freuen wir uns, dass Fräulein Nottebaum uns in der letzten Stunde im Musikunterricht Schuberts
Unvollendete
auf dem Grammophon vorspielt.
Schwere Töne erfüllen den Musiksaal, ein dunkles, sich nach unten neigendes Motiv. Ich mag den ersten Satz am liebsten, wegen des Düsteren und Geheimnisvollen, das sich dahinter zu verbergen scheint. Aber dann kommt der Schwung wieder, flüstert, wispert, hebt seine Stimme, als stelle er eine Frage. Unbeholfen, fast zärtlich singen die leise gestrichenen Geigen dazu, um dann wieder vom Orchester übertönt und in die Tiefe gezogen zu werden.
Ich möchte immer hier sitzen bleiben und der Musik lauschen. Es sind die hellen, schmeichelnden Töne, die das Dunkel zerschneiden, Verborgenes aufblitzen lassen und sich anfühlen wie Augenblicke einer Erlösung. Ich schaue mich um, möchte meine Begeisterung mit anderen teilen.
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