Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
biederen Zöpfen.
»Aber stell dir vor, was Mama sagen würde …«, seufze ich.
»Deine Mutter? Da mach dir mal keine Gedanken. Die war in deinem Alter für manche Überraschung gut.« Und als wäre das ihr Stichwort, erzählt sie mir Geschichtchen und Geschichten aus Mamas Kindheit, aber auch aus ihrer eigenen. Dabei backt sie weiter unermüdlich ihre Plätzchen und streichelt mir hin und wieder über den Kopf. Sie hört erst auf zu erzählen, als die Dämmerung sich langsam in die Küche schleicht und Hans durch die Tür schaut und fragt: »Gibt es bald Abendbrot?«
»Du meine Güte, da erzähle ich und erzähle und merke gar nicht, wie die Zeit vergeht.« Oma lacht. Ach, ich könnte ihr noch viel länger zuhören.
Dann verschwindet sie kurz im Herrenzimmer und kommt mit Opas Portemonnaie zurück. Sie drückt mir einen Geldschein in die Hand. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, sagt sie. »Du bist kein kleines Mädchen mehr, und wenn du deine Zöpfe loswerden willst, solltest du nicht zögern.«
Am nächsten Tag gehe ich nach der Schule ohne Umwege zum Friseurgeschäft
Börding
in der Warendorfer Straße. Eine Weile trödle ich vor dem Schaufenster herum, denn ich traue mich nicht hinein.
An Pflegeprodukten scheint noch kein Mangel zu herrschen, denn das Fenster ist mit Seife, Shampoo und
Chlorodont
-Zahncreme üppig dekoriert. Hier hängen keine Bilder von Frauen mit deutschen Frisuren, sondern ein Plakat verspricht:
Rasier dich ohne Qual – mit Punktal.
Ich muss grinsen und betrete endlich das Geschäft.
Eine Friseuse führt mich zu einem der dicken, ledernen Stühle und drückt mich hinein. Sie bindet mir einen rosafarbenen Umhang um, der mich vollkommen einhüllt – auch meine leicht zitternden Hände.
»Was kann ich für dich tun?«, fragt sie. Sie steht hinter mir, hält meine beiden Zöpfe hoch und sieht mich in dem riesigen Spiegel vor uns an.
»Kurz«, sage ich, versuche mit fester Stimme zu sprechen und deute auf ein Foto an der Wand, auf der eine junge Frau mit leicht gelocktem, kinnkurzem Haar für Haarspray wirbt.
»Kindchen, die Dame dort hat morgens mindestens zwei Stunden Zeit, sich so herzurichten. Danach geht sie auf dem Prinzipalmarkt spazieren und nicht Kartoffeln aufklauben. Und außerdem, du willst doch nicht so eine Judenfrisur, einen Bubikopf, oder?« Ihr Gesicht ist direkt neben meinem. Eine Augenbraue hat sie spöttisch hochgezogen. »Bubikopf geht wirklich nicht.«
»Nein, nein«, antworte ich entsetzt, »das habe ich nicht gemeint.«
»Dann können wir das Ganze schon entspannter angehen.« Sie ist sichtlich zufrieden. »Ich mach dir einen Vorschlag: Ich schneide dir die Haare erst mal schulterlang. Dann kannst du sie beim nächsten Landeinsatz hinten zusammenbinden und siehst fast aus wie die andern. Und wenn du mit deinem Liebsten ausgehst, machst du dir mit der Brennschere Locken. Dann wirken sie kurz und du siehst fast aus wie die da auf dem Plakat.«
Bevor ich antworten kann, löst sie meine Zöpfe. Mit flinken Fingern flicht sie einen einzelnen Zopf, der mir auf dem Rücken liegt. Ein letzter fragender Blick in den Spiegel – dann schneidet sie mit einem Ruck den ganzen Zopf in Schulterhöhe ab. Wie eine Trophäe hält sie ihn hoch und legt ihn auf die Spiegelablage.
»Den kannst du gleich mitnehmen«, sagt sie und beginnt mit dem eigentlichen Haarschnitt. Die Stirnhaare schneidet sie fransig, kraust sie zu kleinen Löckchen und fasst die Deckhaare zu einer Nackenrolle zusammen.
Ich halte meine Augen geschlossen und öffne sie erst, als die Friseuse mir den Umhang abnimmt. Ich traue meinen Augen kaum. Ich sehe – ganz anders aus, fast wie die Frauen in Mamas Modeheften!
»Kein Bubikopf«, sie lacht verschmitzt, als ich ihr das Geld reiche, »der wäre viel, viel kürzer und – ehrlich gesagt – viel zu gewagt.« Sie zwinkert mir zu und wünscht mir viel Glück.
Eine Stunde später stehe ich in unserer Küche. Opa ist begeistert, und Oma nimmt mich in den Arm. »Da schau an. Jetzt bist du eine richtige junge Dame!«
»Du spinnst«, ruft Hans. »Warte mal ab, was Mama und Papa sagen. Das gibt mächtig Ärger!«
Auch in der Schule erregt meine Frisur Aufmerksamkeit! Fräulein Steinbrede sieht mich entgeistert an, sagt aber nichts. Fräulein Nottebaum nimmt meinen Haarschnitt zum Anlass, den Unterricht über Schuberts
Unvollendete
zu unterbrechen und über die Musik der zwanziger Jahre zu sprechen. Jazz, Ragtime, Swing und Josephine Baker als
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