Vaters böser Schatten
darauf das dröhnende Signal, die Warnung, dass der Zug verflucht schnell auf ihn zugerast kam. Und doch lief er immer weiter. Sein Atem ging flach, er schluckte trocken, während die Zigarette in seiner Hand verglühte.
Vor seinem inneren Auge spielten sich Bilder ab, ganze Filme in hochauflösendem HD mit passendem Dolby Surround.
Er hörte seinen Vater, der ihm sagte, er sei nichts weiter als eine Belastung, nicht sein Sohn, ein Bastard.
Beinahe hätte Ryan den Absprung verpasst, doch er trat rechtzeitig beiseite, bevor der Zug ihn und sein Leben mitnehmen konnte. Laut schrie er auf. Er war sicher, dass er niemals so gebrüllt hatte. Er sank auf die Knie, brüllte den ganzen Hass auf seinen Erzeuger heraus, während Tränen über Tränen über seine Wangen liefen.
„DU BASTARD! WIE KONNTEST DU MIR DAS ANTUN? WIE KONNTEST DU DEINEM EIGENEN SOHN SO ETWAS ANTUN?“
Eine knappe Stunde später saß er am See, schaute auf das Wasser und rührte sich sonst nicht weiter.
„Snoopy?“ Leon, der einen Anruf von Rick und Dakota bekommen hatte, die Ryan am See hatten sitzen sehen, kam langsam den Hang hinunter, blieb vor ihm stehen und ging in die Hocke. „Hey, sieh mich mal an.“
Ryan wandte ihm den Blick zu. „Ich hab es getan“, flüsterte er.
„Was hast du getan?“
„Ich war auf den Bahngleisen. Ich habe es wieder getan.“
Langsam nickte Leon, setzte sich neben ihn. „Schon gut … komm her.“ Er schlang seine Arme um ihn, zog Ryan in die vertraute, warme Umarmung. „Wie geht es dir?“
„Beschissen. Ich … meine Stimme ist weg …“
„Ja, du bist heiser. Was ist passiert?“
„Ich habe geschrien. Ich habe … so laut geschrien. Ich weiß nicht, wie lange.“ Ryan schaute weiter auf die glatte Wasseroberfläche. „Mein Kopf fühlte sich ganz leicht an. Als wäre er komplett leer. Als wäre nichts mehr drin … nur Luft.“
Schweigend küsste Leon dessen Schläfe. Er wollte erstmal nur für ihn da sein. „Schhht … ich bin bei dir“, wisperte er.
„Alles weg …“
„Ryan, erzählen Sie von der Zeit, nachdem Ihr Großvater gestorben war.“
Ryan seufzte leise, trank einen Schluck Wasser. „Dad hatte, glaube ich, nur darauf gewartet, endlich alles in die Hand zu nehmen. Mum hat immer gesagt, dass er bis dahin wirklich liebenswert war. Ich weiß es nicht. Ich denke nicht, dass er jemals liebenswert zu mir war. Er hat das getan, was ein Vater tut, aber nie ist er darüber hinausgegangen. Er hat mir nie gezeigt, dass er mich liebt. Die Tage nach Großvaters Tod hat er sein wahres Gesicht gezeigt. Ich war dreizehn und kam von der Schule. Er hat mir meinen neuen Arbeitsplan aufgezeigt. Vor der Schule musste ich die Hühner füttern und das Gehege säubern. Das bedeutete, dass ich immer um fünf Uhr aufgestanden bin. Jeden Tag. Nach einem halben Jahr hatte Mum durchgesetzt, dass ich sonntags nicht arbeiten muss. Sie sagte, ich sei im Wachstum, ich bräuchte einen Tag in der Woche zum Erholen. An diesen Tagen hat er alles allein gemacht. Trotzdem musste ich sechs Tage in der Woche morgens um fünf aufstehen. Ich habe mich angezogen, habe meine Arbeit erledigt und habe auf dem Weg zur Schule schnell etwas gegessen.“ Kurz lächelte Ryan. „Im Grunde kann ich froh sein, dass mir schulisch alles in den Schoß fällt. Nicht auszudenken, wenn ich auch noch hätte lernen müssen.“ Er seufzte leise, spielte mit seinem Schnürsenkel. „Nach der Schule hieß es dann Stallarbeit, Weidepflege, Zaunreperaturen, alles, was auf einer Farm eben so anfällt. Ich weiß noch, zum ersten Osterfest nach Großvaters Tod bin ich zur Westweide geritten. Überall lag Schokolade versteckt. Im Stall, auf der Weide. Mum und Julius haben sie versteckt. Es war mein erster Feiertag, den ich arbeiten musste und sie wollten ihn mir etwas versüßen. Ich habe kaum gearbeitet. Ich habe lieber die gesamte Westweide abgesucht und dann heimlich im Stall alles aufgegessen, aus Angst, mein Vater würde es mir wegnehmen. Aus Angst, Mum könnte Ärger bekommen, sollte er es herausfinden. So hat sie es bis heute gehandhabt. Immer hat sie etwas versteckt, so dass Dad es nicht finden konnte, aber ich wusste, dass es da war. Ich bin vermutlich zu alt dafür, aber … das ist eine süße Geste von ihr, die vieles erleichtert hat.“
Er trank einen weiteren Schluck.
„Dad hat mich kontrolliert. Die letzten Monate ging es immer darum, dass ich unnütz in der Schule herumsitzen würde. Ich könnte mit meiner Zeit etwas Besseres
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