Vatikan - Die Hüter der Reliquie (German Edition)
frage ich mich: Was sollten wir jetzt tun, Apollonia? Wohin gehen? Wie die unendliche Zeit, die vor uns liegt, füllen?«
Ich verstand nicht, was er meinte. Argyle merkte es und versuchte, sich zu erklären. »Bevor ich verwandelt wurde, hatte ich ein Ziel: Ich wollte meinen Eltern ein guter Sohn und meiner Frau ein guter Mann sein.« Argyle seufzte. »Als du geboren wurdest, wollte ich dich beschützen und dir ein gutes Heim bieten. Als du verschwunden warst, hatte ich ein einziges Ziel: dich wiederzufinden. Als wir die Gefahr erkannten, die von Miguel ausging, hatten wir ein gemeinsames Ziel: seinen Plan zu vereiteln.« Argyle machte eine Pause. »Doch jetzt, Apollonia, was sollten wir jetzt machen? Welches Ziel haben wir?«
Ich sah Argyle perplex an. Ich spürte seine Verzweiflung, seine Ziellosigkeit, aber ich konnte sie nicht teilen.
*
Comitti spähte über die Manuskriptseiten und sah enttäuscht, dass Miguel immer noch nicht von dem Wein getrunken hatte. Der Sicherheitschef war lautlos aufgestanden und stand nun mit nachdenklichem Gesicht mit dem Rücken zum Fenster.
»Ziellosigkeit ist ein Fluch. Ich kann meinen Großvater verstehen. All die Jahre, ohne ein Ziel – undenkbar!« Miguel drehte sich um und sah aus dem Fenster. Comitti wusste nicht, was von ihm verlangt wurde. Sollte er weiterlesen oder wollte Miguel noch etwas hinzufügen?
»Ich muss mir Gedanken darüber machen, was danach ist. Gut, dass ich darauf aufmerksam gemacht werde. Stellen Sie sich das vor, Comitti: Man hat ein Ziel vor Augen und erreicht es, aber statt sich zu freuen, versinkt man in Melancholie und Antriebslosigkeit.«
Comitti lächelte zustimmend und blickte auf Miguels Glas. Ihn zum Trinken zu bewegen, war momentan sein einziges Ziel. »Ich denke da nicht nur an mich«, sagte Miguel. »Da würden Sie mich falsch verstehen. Ich muss die Verantwortung für viele Vampire übernehmen, die das gleiche Schicksal teilen.« Miguel ging auf und ab. »Ich werde genauer aussieben müssen.« Miguel war vor Comitti stehen geblieben und schnippte vor dessen Nase. »Es wird Tests geben. Ich könnte mir vorstellen, dass kreative Menschen infrage kommen. Solche, denen der Tag und ihr Leben zu kurz erscheinen. Was meinen Sie?« Miguel wartete gar nicht auf eine Antwort. »Forscher. Denen rennt die Zeit davon. Physiker, Chemiker, so was.«
Miguel nahm seine Wanderung wieder auf. Er erinnerte Comitti damit an Argyle, der die gleiche Angewohnheit besaß.
»Sie ähneln Ihrem Großvater.« Comitti lächelte.
»Ein schlauer Kopf, mein Großvater. Leider wird er ihn nicht behalten. Es ist die Liebe, die ihm zum Verhängnis wird.«
Comitti sah erschrocken auf. Er hatte gehofft, dass Argyle noch lebte. Jeder, der noch da war, um den Kampf mit Miguel aufzunehmen, wurde gebraucht. Ob Vampir oder Mensch.
»Zum Verhängnis? Was ist mit ihm geschehen?«
»Das, was mit Menschen geschieht, die auf ihr Gefühl hören. Ich habe diesen Fehler auch einmal gemacht.«
»Bei Ihrer Mutter.« Comitti nickte.
»Richtig. Einmal war ich von dem Gedanken beseelt, dass mich jemand lieben könnte, mir jemand vertrauen könnte. Nun, Sie sehen ja, was dabei herausgekommen ist.« Miguel ließ sich schwer in den Sessel fallen. »Sie haben das ja auch erlebt, Comitti. Wenn ich Ihre Erinnerungen, die Sie am Anfang unseres Gesprächs hatten, richtig deute, dann haben auch Sie eine unglückliche Liebe hinter sich. Auch Sie wurden betrogen. Von Ihrem besten Freund und Ihrer Verlobten.«
Comitti wurde kreidebleich und schloss die Augen. Er sah, wie er mit erhobenem Messer vor seinem Freund stand, der am Boden lag. Drei Jahre hatte er für diese Tat ins Gefängnis gemusst. Drei Jahre, die er genutzt hatte, zu lesen, zu studieren. Der Gefängnisdirektor hatte seinen Fleiß falsch gedeutet, meinte, dass er etwas aus seinem Leben machen wollte. Dabei betäubte er sich durch die Informationsflut. Verdrängte die Verachtung seiner Verlobten, ihre Beleidigung, als man ihm den Prozess machte. Längst war er ein alter Mann, doch der Zorn flackerte auf, wenn er nur daran dachte. Er war Pfarrer geworden, hatte sich von Frauen abgewandt, hatte sein Heil im Glauben gesucht. Er hatte das stille Plätzchen im Vatikan gefunden, das ihm die Möglichkeit gab, weiterzustudieren, zu lesen und seine Erinnerungen zum Schweigen zu bringen. Darum las er ganze Nächte hindurch.
»Ich wusste gleich, dass Sie ein interessanter Mann sind. Grämen Sie sich nicht. Wir machen alle unsere
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