Vellum: Roman (German Edition)
brachte, der in Gottes Namen sprach – der Einzige, dem gestattet war, hinter den Schleier zu treten und die himmlische Herrlichkeit einer Gottheit zu schauen, deren Name nicht ausgesprochen werden durfte, deren Angesicht niemand schauen durfte außer seinem Ersten Diener und deren Worte nur aus dem Munde seines Sprechers zu vernehmen waren. Metatron, der treueste Diener des einen wahren Gottes. Darüber gab es viele Geschichten, und in vieler Hinsicht beruhten sie auf Wahrheit. Außer dass alle Unkin ihn früher oder später kennenlernen, hinter den Schleier treten, um sein jenseitiges und unsagbares Geheimnis zu schauen.
»Der Eine Wahre Gott«, sagt er zu ihnen allen, wenn er auf den leeren Thron deutet.
Diese Erkenntnis ist das Herzstück des Konvents, der Grund, aus dem sie sich Unkin nannten. Nicht ›theos‹ oder ›deus‹, ›netjer‹ oder ›dingir‹, ›aesir‹ oder Götter. Unkin. Manche der Spätgeborenen glauben, es sei eine Neuschöpfung, wie ›untot‹ – un-kin , ohne Sippe –, weil sie ihre Familie zurücklassen, ihre Geschichte, ihr Menschsein, wenn das, was sich in ihnen befindet, die Macht jenseits der Wirklichkeit berührt und sie für immer verwandelt. Dabei war es der Name für den Rat der Ältesten, der über die Städte und Dörfer der neolithischen Welt herrschte, in die Enosch hineingeboren worden war. Das Wort ›Demokrat‹ gab es damals noch nicht.
Für Metatron, für alle Unkin, ist der Himmel die Republik, die sie seit dreitausend Jahren begründen möchten.
Aber es gibt immer auch diejenigen, die den leeren Thron sehen und auf ihm sitzen wollen. Manche sagen, der Konvent sei ungerecht, unrechtmäßig, korrupt, er bestehe einzig aus alten Männern, welche die Welt nicht mehr verstünden, die sich um sie herum unaufhörlich veränderte – Bürokraten und Intellektuelle, eine patriarchalische Elite. Militante und Radikale wird es immer geben, Philosophen mit großen Plänen, Politiker mit der Gerissenheit und dem Mut, sie umsetzen zu wollen. Metatron sollte das eigentlich wissen; er war selbst mal einer von ihnen gewesen, vor langer Zeit. Aber größtenteils sind sie nur von ihrer eigenen Bestimmung überzeugt, und das verbergen sie hinter revolutionärer Rhetorik. Die alten Unkin, die sich dem Konvent nicht anschließen wollten, weil sie dann tatsächlich etwas würden tun müssen, wozu jemand anderes sie aufforderte; die jüngeren, die diese finsteren romantischen Rebellen heroisieren – für Metatron gleichen sie alle den Fanatikern, die sich in den Bergen Afghanistans oder Amerikas, der Wüste Algeriens oder dem Dschungel des Kongo verschanzen. Weiße Herrenmenschen oder islamische Terroristen, ob sie nun Grundgesetze oder Marx zitieren, die Reinheit der Rasse oder die Scharia – jeder von ihnen denkt, dass er für die gerechte Sache kämpfe. Der eigentlich Kampf ist die Revolution, die vor Jahrtausenden ihren Anfang genommen hat und noch immer weitergeht – der Kampf, die Macht all diesen Mördern aus den Händen zu reißen und sie wieder den Seiten eines Buches, den gerichtlichen Verfahren zurückzugeben.
Aber nein! Es ist ihr ›gottgegebenes‹ Recht, Waffen zu tragen, und jedes Eigentum ist Diebstahl, und die arische Rasse ist zum Herrschen geboren, und wenn eine Frau den Mann betrügt, der für sie auserwählt wurde, dann muss sie gesteinigt werden. Und wenn der Konvent denkt, er hätte das Recht, einem Geschöpf Fesseln anzulegen, das so offensichtlich geboren wurde, Macht und Herrlichkeit zu erlangen – nun, dann irrt sich der Konvent eben.
Metatron hatte die ganzen Streitereien satt gehabt, als ihm die Idee für den Konvent gekommen war. Dreitausend Jahre später hat er sie noch immer satt, denn all die Teufel und Dämonen, die lieber in der Hölle herrschten, als im Himmel zu dienen, organisierten sich, sammelten ihre Kräfte. Er hat es endgültig satt, denn noch immer gibt es dumme Jungspunde wie die Messenger-Geschwister, die glauben, sie könnten einfach davonlaufen und sich verstecken, als ob eine der beiden Parteien zulassen würde, dass ein Unkin herumstreunte, ohne sich festzulegen – genauso wenig würde ein Polizeibeamter eine geladene Pistole vor einem Psychopathen auf dem Tisch liegen lassen und sich dann umdrehen, um erschossen zu werden.
Und er hat es alles so schrecklich satt, weil die Puzzleteile allmählich zusammenpassen – Thomas und Phreedom Messenger, Seamus Finnan, Inanna – und einen Sinn ergeben.
Was ist
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