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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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weitergegeben wurde? Oder die Wehklage um ein totes Kind? Er tippt auf eine Pfeiltaste, und der Text rutscht seitlich weiter.
    »Was ist geschehen?«, sprach der große Gott Enki. »Was hat meine Tochter getan? Inanna, Herrin der Erde und heilige Priesterin des Himmels. Was ist geschehen? Mir ist angst und bange.«
    Er starrt das Schriftzeichen an, das sich jetzt in der Mitte des Bildschirms befindet – ein magisches Zeichen, das dort eigentlich nicht sein dürfte, das Zeichen einer Unkin, schon ebenso viele tausend Jahre lang vergessen wie sein eigener ursprünglicher Name. Es dürfte nicht dort stehen, aber es steht trotzdem da.
    Inanna .
     
    Der große Gott Enki holte den Dreck unter den Fingernägeln seiner linken Hand hervor und formte daraus einen Kurgarra, ein geschlechtsloses Wesen. Der große Gott kratzte den Dreck unter den Fingernägeln seiner rechten Hand hervor und formte daraus eine Galaturra, ein geschlechtsloses Wesen. Dem Kurgarra gab er die Speise des Lebens. Der Galaturra gab er das Wasser des Lebens.
    Er fährt mit dem Daumen über das Trackpad, klickt rechts, wählt eine Übersetzung für den Text aus; die Zeichen bilden einander überlappende Schachbrettmuster, die sich nacheinander öffnen und übereinanderschieben, bis sie eine neue Ansammlung von Kombinationen bilden.
    In der Weisheit seines Herzens schuf Enki ein neues Wesen. Er schuf einen hübschen Jüngling, ein kluges junges Bürschlein, dem er den Namen ›Zauberhaft‹ gab.
    Es ist die gleiche Geschichte, nur in einer anderen Fassung. Jetzt fällt es ihm wieder ein – ›Inannas Abstieg‹ in Sumer, ›Ischtars Abstieg‹ im späten Babylon. Die junge ungestüme Herrin des Himmels versucht, auch die Herrschaft über die Unterwelt an sich zu reißen. In der einen Fassung muss Enki einen hübschen Jüngling – in der anderen gleich deren zwei – hinabschicken, um Ereschkigal dazu zu bewegen, Inanna freizugeben. Keine der beiden Fassungen ist eine genaue Wiedergabe der tatsächlichen Ereignisse. In Wirklichkeit war Inanna eine ehrgeizige kleine Schlampe, die bekam, was sie verdiente. Sie hurte sich bis an die Spitze hoch und ließ eine lange Reihe verstoßener Liebhaber zurück. Einmal versuchte sie sogar, ihm das Me zu stehlen. Für sie empfand er nicht das geringste Mitleid, und als sie bei ihrem Angriff auf Eresch von Kur dem Tod in die Arme lief, war er froh, dass sie in den Randbereichen der Wirklichkeit verschwand und nur noch die alten Mythen und Legenden hie und da von ihr sprachen. Zu jenem Zeitpunkt schmiedete er bereits Pläne für den Konvent, um alle Unkin unter einem Gesetz zu einen, um endlich allen Fehden und Rivalitäten ein Ende zu setzen; ein machthungriges Mädchen weniger war ein Problem weniger. Warum zum Teufel sollte er versuchen, sie mit Gewalt aus dem Vellum ins Dasein zurückzuholen?
     
    Er hatte die ganzen Streitereien satt gehabt. Er hatte es satt gehabt, für einen Größenwahnsinnigen nach dem anderen den Wesir abzugeben  – für Enlil, Marduk, Ninurta, Adad, für diesen oder jenen Baal. Er wollte nur Frieden und es gab genug seinesgleichen, dass es, als sie dem Konvent beitraten, so aussah, als würde er sein Ziel erreichen. Einer nach dem anderen schlossen sich ihm die Unkin an, im Vertrauen darauf, dass ihre Zukunft in stillen Imperien liegen würde, in verborgenen Reichen. Sollten die Menschen doch die Welt für sie aufbauen, sich selbst regieren, ab und zu von einer Vision oder einer Stimme angeleitet. Manchmal waren sie sogar offen und ehrlich: Als der junge Stammesangehörige der Habiru, den er ausgewählt hatte, die neue Religion zu begründen, ihn nach seinem Namen fragte, hatte Enki ihn ihm genannt. ›Eyah asher Eyah‹, hatte er gesagt. Kein Rätsel, kein Geheimnis. Unter dem Namen Ea hatten sie ihn in Babylon angerufen, in jenem Land, aus dem die Vorfahren des Jungen stammten. Ich bin der, den sie Ea nennen. Die Tatsache, dass das letztlich als ›Ich bin das, was sie ich bin nennen‹ niedergeschrieben wurde, bezeugte nur, dass der Plan erfolgreich gewesen war; die alte Welt der Götter, der Riesen unter den Menschen, geriet in Vergessenheit, wurde ausgelöscht. In der neuen Welt würden sie als Diener angesehen, nicht als Herrscher. Sie konnten noch einmal ganz von vorne anfangen.
    Und so wurde aus Rapiu Raphael, aus Ada wurde Azazel, aus Schamasch wurde Sammael, und aus Enki wurde Enosch und schließlich Metatron, jener Engel und Schreiber, der das Buch des Lebens zu Papier

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