Vellum: Roman (German Edition)
geöffnet. Und dann sind sie fort. Einfach verschwunden.
Seit jenem ersten Mal ist es immer wieder passiert. Ich lande ganz langsam, an einem Ort, wo nur ein einsamer Mann sein Feld pflügt oder in seinem Boot fischt, gleite lautlos heran und bete, dass es nicht erneut geschieht. Der Wirkungsbereich meines Einflusses ist anscheinend jedes Mal unterschiedlich, aber das Ergebnis ist dasselbe. Ich sehe, wie sie aus dem Augenwinkel meinen Schatten bemerken, wie sie sich umdrehen, zu mir hochblicken. Ein Rechen entfällt einer Hand. Ein Gewehr wird für einen kurzen Moment an die Wange gehoben und dann wieder gesenkt. Zigaretten werden angezündet. Biergläser geleert. Hunde bellen, doch niemand schenkt ihnen Beachtung. Und dann, immer wenn ich nahe herankomme – und einmal, einmal stand ich sogar schon auf dem Boden und ging auf einen alten Mann zu, war ihm so nahe, dass ich fast die Stoppeln auf seinem Kinn hätte berühren können – und dann ... schimmert plötzlich alles wie die Luft über einer Straße in der heißen Mittagssonne an einem Sommertag. Und sie sind fort, verschwunden, zu Staub geworden.
Jetzt bin ich der Tod, der Weltenzerstörer.
Liegt es an dem ›Buch‹, frage ich mich, oder an mir? Liegt es daran, dass ich ihrer Wirklichkeit so fremd bin, dass wir nicht einmal in der Wahrnehmung des anderen existieren können? Ist das der Grund, warum ganze Welten von Müttern, Vätern, Kindern, Freunden, Feinden, Zivilisationen aus dem Weg geräumt werden müssen, damit der Weg für mich frei ist? Das kann ich nicht glauben, das wäre zu furchtbar. Es muss an dem ›Buch‹ liegen. Ich fürchte, dass die Schockwelle, die sich über meine eigene Welt ausgebreitet, sie an den Enden der Erde aufgerissen hat, sie hat aufblühen lassen, bis sie die Enden dieser anderen Welten berührte, die ich Vellum nenne – ich fürchte, dass diese Schockwelle die Aura des ›Buches‹ ist, die von meiner Vermessenheit entfesselt wurde und mich als ihr Hüter zu ewiger Einsamkeit verdammt.
Ich habe mir überlegt, es zu vernichten oder irgendwo zurückzulassen. Vielleicht müsste ich dann nur eine Welt oder zwei durchwandern, um ihrer Stille zu entkommen, einen dahinplätschernden Fluss überqueren, um mich wieder unter Lebewesen zu befinden. Und dann?
All das ergibt keinen Sinn. Nirgendwo stoße ich auf einen Hinweis, eine Andeutung. Wo sind die Hüter der Schwelle? Wo die uralte Prophezeiung, der Krieg, den es zu führen, den Tyrannen, den es zu stürzen gilt? Die leeren Welten des Vellum tragen keine Botschaft in sich, nur den Widerhall meiner enttäuschten Sehnsucht.
Eine Möglichkeit gibt es allerdings, über die ich inzwischen nachdenke. Ich selbst bin dem ›Buch‹ aufgeprägt, als Zeichen auf seinem Einband, und das hat mich ins Grübeln gebracht. Wenn ich nur in seinem Wirkungsbereich existieren kann, bin ich ihm dann aufgeprägt, weil es mich gibt, oder gibt es mich, weil ich ihm aufgeprägt bin?
Und so stehe ich auf einem kalten, grauen Felsvorsprung, während sich unter mir ein Fluss schwarz durch Gestrüpp schlängelt. Vom Laubwerk halb verborgen wie eine viktorianische Statue, ein präraphaelitischer Engel, beobachte ich den jungen Mann, der in der Ferne unter einem Apfelbaum sitzt und liest. Ich schlage das ›Buch‹ auf, blättere bis zu einer Karte im richtigen Maßstab weiter; und mit dem Stift in der Hand füge ich einen kleinen ... Nachtrag hinzu, eine Korrektur, ein X. Ich trage den Fremden in das ›Buch‹ ein.
7
Die schwarzen Linien unseres Schicksals
Der Engel Metatron
Und so ging Ninschubur nach Eridu und betrat den Heiligen Schrein, Enkis Tempel.
»Tod silberner im Kur, o Vater leuchtender Ilil«, rief sie, »deine duftende Tochter, mit kostbarem Lapislazuli Staub bedeckt der zersplitterten Steine in der Unterwelt in die heilige Zeder gestochen, Priesterin der Erde für die Steinarbeiter getötet, für die Tischler des Himmels ...«
Er tippt kurz auf ein paar Tasten, lädt den Bildschirm neu; der Text scrollt weiter, verschwindet, taucht wie zuvor wieder auf, nichts als Kauderwelsch, die gleichen Anspielungen auf Ilil und Ninschubur, vage vertraut, aber doch vergessen ... und auf ihn, als Enki, nicht als Enosch oder Metatron – nicht einmal als Ea –, sondern als Enki. Er starrt den Bildschirm an und versucht, den Text zu entwirren, eine Geschichte zu erkennen ... vielleicht die Aufzeichnungen eines Priesters, eine Legende, die von Generation zu Generation
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