Vellum: Roman (German Edition)
geschehen?, fragt der Bildschirm. Mir ist angst und bange.
»Was hast du getrieben, meine Kleine? In was bist du da hineingeraten?«
Geschöpfe der Erde
»Also gut, Inanna«, sagt Madame Iris. »Dir ist –«
»Nein«, sagt sie.
Getrocknetes Blut bröckelt von ihrem Arm, als sie darüberfährt; er heilt rasch, während sie tonlos ein sanftes Mantra vor sich hin murmelt. Die Zeichnung bedeckt den ganzen Arm, von der Schulter bis zum Handgelenk, bedeckt ihn mit ihrer Geschichte, Inannas Geschichte. Aber so sehr sie jetzt auch ein Teil von ihr ist, ist sie eben doch nicht alles. Sie findet nicht, dass sie sich Inanna nennen kann. Dazu reicht es nicht ganz. Andererseits ist jener Teil von ihr, der einst Phreedom war, nun dauerhaft verändert, durch diese ... Neuverkabelung ihrer Seele grundlegend umgewandelt.
»Nenn mich ... Anna«, sagt sie. »Ein moderner Name für eine moderne Welt.«
Es ist ein wenig beunruhigend ... mehr als nur ein wenig: Sie verfügt über drei komplette Sätze von Erinnerungen, die alle um ihre Aufmerksamkeit buhlen – die Motorradbraut aus dem Informationszeitalter, die Kleinstadtprinzessin aus der neuen Steinzeit und ... etwas anderes. Das dritte Ich ist etwas verschwommen, unzusammenhängend, widersprüchlich; es ist das Ich der Toten, in Träumen und Legenden eingebettet, in Schatten und Vexierbildern der Wirklichkeit. Dreitausend Jahre der Verschmelzung und Veränderung im kollektiven Unterbewusstsein der Menschheit, im Vellum. Drei Jahrtausende oder drei Tage, drei Ewigkeiten lang nichts weiter als eine Geschichte, die immer wieder neu erzählt wird, jedes Mal anders – auseinandergerissen, in einen neuen Zusammenhang gestellt, missbraucht. Wiederhergestellt.
Aber wer sich einmal im Vellum befindet, bleibt für immer dort. Sie muss nur die Augen schließen, um den Tattoosalon so zu sehen, wie er wirklich ist, wie er ist und war und immer sein wird, ein Haus der Toten. In den Schatten um sie herum bewegen sich merkwürdige Wesen. Ereschkigal, Eresch von der großen Erde, steht zwischen ihr und dem Perlenvorhang, dem Ausgang.
»Dann eben Anna«, sagt Madame Iris. »Dir ist klar, dass du jetzt mir gehörst?«
Das Buch der Prägungen liegt offen vor ihr auf der Theke. In gewisser Hinsicht ist es ebenso ein Abkommen wie der Konvent. Mag sie auch hier sein, im Körper einer zornigen jungen Frau, durch das Werk der Nadeln von Madame Iris darin eingebunden, ist sie doch ebenso in diesem Buch, seinen Seiten eingebunden, in alle Ewigkeit den Händen von Madame Iris ausgeliefert, die dreitausend Jahre lang Zeit hatte, das Mal der Inanna genau zu untersuchen, wie ein Anatom einen Leichnam seziert, ein Botaniker eine Pflanze präpariert, ein Archäologe einen antiken Text studiert. Iris kennt ihr Mal, ihren geheimen Namen wahrscheinlich besser als sie selbst, und das verleiht ihr Macht über sie. Selbst die Menschen wissen, dass man ein Geschöpf seinem Willen unterwerfen kann, wenn man seinen geheimen Namen kennt – sei es nun Engel oder Teufel, Gott oder Unkin.
Plötzlich hat sie ein Bild von sich selbst vor Augen, wie sie tot an einem Pflock baumelt, während Iris vor ihr auf und ab geht, sie mustert, das Mal abzeichnet, das noch auf ihrer kalten Haut leuchtet, wie sie mit einem Finger durch den Staub fährt, mit Farbpigmenten auf Tierhaut malt, auf Papyrus und Leinwand Vorzeichnungen anfertigt. Das war ihre Aufgabe als Archivarin der Seelen. Nicht einmal die Unkin lebten ewig. Geschöpfe der Erde, die sie waren, aus Kohlenstoff und Wasser, benötigten sogar die Götter tönerne Füße, um auf Erden zu wandeln, und so ließen sie ihre Körper zur sicheren Verwahrung zu ihr bringen, und sie zog ihnen die Haut ab, behandelte sie, bewahrte das Mal. In ihrer Stadt der Toten, in der Höhle in den Bergen nördlich von Sumer, nördlich von Akkad, nördlich von Aratta – mochten auch alle Teraphim zerschlagen, alle Schabtis zertrümmert und ihre menschlichen Inkarnationen von Feinden abgeschlachtet werden – wurden ihre Seelen sicher verwahrt, sodass sie eines Tages zu neuem Leben erwachen konnten. Bei all den Kriegen und Fehden, geschlossenen und gebrochenen Bündnissen war das die einzige Gewissheit; Kur war über diese belanglosen Streitigkeiten erhaben, verhandelte mit allen Seiten gleich und konnte weder bestochen noch erpresst werden. Eresch war im eigentlichen Sinne unberührbar.
Inanna hatte gewusst, dass der Konvent dem ein Ende machen würde. Sie hatte
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