Vellum: Roman (German Edition)
Staub.
»Geh weiter zu deiner Stadt, Inanna«, sprachen die Ugallu. »Wir werden Lulal als Ersatz für dich mitnehmen.«
»Nicht Lulal, meinen Sohn«, rief Inanna. »Er ist ein König unter den Menschen, mein rechter Arm und mein linker Arm. Nie werde ich euch Lulal überlassen.«
»Dann geh weiter zu deiner Stadt, Inanna«, sprachen die Ugallu. »Und wir werden mit dir zum großen Apfelbaum nach Uruk gehen.«
Sie holen sie ein, als sie den Tunnel erreicht, als sie ausschert, um einen Kombi zu überholen – mit einer solchen Geschwindigkeit, dass der Fahrer ausflippt und die Seite seines Wagens gegen die Mauer schreddert. Funken stieben auf, das schwerfällige Gefährt prallt zurück auf die andere Seite, schleift wieder kreischend am Mauerwerk entlang, direkt in die Bahn des schnittigen schwarzen Wagens, streift ihn, und Chromstoßstangen wirbeln durch die Luft. Im Rückspiegel sieht sie, wie sich die Wichser vorbeugen, der mit den dunklen Haaren am Steuer, der andere auf dem Beifahrersitz, die blutige Hand gegen die Windschutzscheibe gedrückt. Flammen lodern in seinen Augenhöhlen, und sie begreift, dass die beiden nicht mehr für Metatron arbeiten und auch nicht mehr für Eresch; sie arbeiten für etwas, dessen einziges Begehr, dessen einziger Antrieb in der brutalen Ästhetik des Todes besteht, in einem festgeschriebenen Schicksal, das auf ewig und unveränderbar in Erfüllung gehen muss. Und den Gefallen wird sie ihnen verdammt nochmal nicht tun.
Am Ende des Tunnels biegt die Straße scharf nach rechts ab, aber sie legt sich nicht in die Kurve – sie rast schnurgerade durch die Leitplanke, wird über die Lenkstange und durch die Luft geschleudert, durch Blätter und Zweige und gebrochene Knochen und einen zerfetzten Leib und durch ein Tor aus der Wirklichkeit hinaus und in das Vellum hinein.
Durch das hohe Gras
In Uruk, unter einem Baum mit goldenen Äpfeln, saß Tammuz, Geliebter der Inanna, in sein Me-Festgewand gekleidet, faul und bewegungslos auf seinem Thron. Inanna schaute ihn an mit dem Blick des Todes, sprach zu ihm das Wort des bösen Sinns, sprach zu ihm das Wort der Strafe:
»Nehmt ihn! Nehmt ihn als Ersatz für mich! Wascht ihn mit klarem Wasser und salbt ihn mit süßem Öl. Kleidet ihn in ein rotes Gewand und lasst die Lapisflöten erklingen. Lasst alle Lustweiber ein lautes Wehklagen um ihn anstimmen. Hinfort mit ihm.«
Sie liegt im Gras und blickt zum blauen Himmel hoch, zu einer sichelförmigen Sonne, die es eigentlich gar nicht geben kann, zu den Ästen eines Baumes, die das goldene Licht mit fleckigem Grün sprenkeln – und in das Gesicht ihres Bruders. Er versucht sie daran zu hindern, doch sie murmelt bereits die Zauberformeln, die ihr die nötige Kraft zurückgeben, sie zieht sich bereits mit einem Arm um seinem Nacken hoch und mit dem anderen greift sie in ihre Jacke. Sie zieht eine aus einem Buch herausgerissene Seite hervor, das Mal des Tammuz, und sie zeigt es ihm, reicht es ihm, während sie ihren gebrochenen Arm aus dem Ärmel zieht. Sie muss das Blut abwischen, um ihm zu zeigen, wo seine und ihre Geschichte aufeinandertreffen, hier im Vellum: das Ende ihrer und der Anfang seiner Geschichte, unter einem Baum mit goldenen Äpfeln und grünen Blättern.
Sie schimpft ihn einen verfluchten Idioten, einen Narren, einen Feigling.
Er schüttelt den Kopf. Sie begreift nichts. Alles wird gut.
Sie hört sie durch das hohe Gras näher kommen, die Wesen, die Metatron geschaffen hat, die Eresch zerstört und die von den Maschinenseelen tausender vor langer Zeit gestorbener Unkin ausgeschickt wurden, um das Tor zu schließen und ihr Schicksal zu besiegeln. Sie hat ihr Messer aus der Tasche gezogen und betrachtet den Arm, auf der Suche nach der Stelle, der richtigen Kombination von Zeichen und Symbolen. In Uruk, unter einem Baum mit goldenen Äpfeln und grünen Blättern ...
Sie muss ihn nur heraustrennen, diesen kleinen Teil ihres Selbst, um den Lauf der Dinge aufzuhalten. Sie kann die Geschichte neu schreiben, sie abändern. Er kann das auch. Versteht er das nicht?
Er schüttelt den Kopf. Sie begreift nichts. Sie sind jetzt die Geschichte! Die Engel, die Dämonen – sie spielen keine Rolle mehr; jetzt ist es ihre Geschichte. Alles wird gut.
»Sie werden dich immer wieder gefangen nehmen«, sagt sie.
»Und ich werde ihnen immer wieder entkommen.«
»Sie werden dich töten, immer und immer wieder.«
»Und die ganze Zeit über werde ich hier sein«,
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