Vellum: Roman (German Edition)
die starben, lange bevor der Konvent überhaupt erdacht wurde, bevor Enki oder Inanna oder sogar Eresch geboren wurden. Sie sind mächtig, so alt wie der erste Elfenbeinspeerwerfer, vielleicht sogar älter, und nur ihre eisige Losgelöstheit von ihren lang vergessenen Träumen ist es, die sie Annas Willen folgen lässt ... denn sie haben keinen eigenen mehr.
Sie hält das Wort in Gedanken fest wie ein Mathematiker eine Gleichung auf seiner Tafel oder ein buddhistischer Mönch ein Mandala vor seinem inneren Auge, ein Mantra auf seinen Lippen. Und sie hält es im Muster ihres Arms fest, der Schnittstelle zwischen dem Vellum und ihrem Körper, der ebenso die Dienerin Ninschubur wie die Göttin Inanna ist, ebenso der Simavatar Cypherlady wie Phreedom Messenger, die ihn programmiert hat.
»Niemand ersteht sich aus der Unterwelt auf, ohne gezeichnet zu sein«, sprachen sie.
Der Raum ist von Schatten erfüllt. Das schwarze Zeug ist überall – an den Wänden, in der Luft, auf ihnen allen, und sie kann die Intelligenz darin spüren, in den Rückkopplungen der Empfindungen, die ihr über die Haut kriechen. Sie ist es gewohnt, mit KI umzugehen, mit psychologischen Modellen, die in modularen Einheiten oder abstrakten Netzwerken definiert werden, die sich in visuellen oder linguistischen Symbolen ausdrücken – Metacode in der x-ten Generation, der von den ihm zugrunde liegenden Bits und Bytes so weit entfernt ist wie die Pläne eines Architekten von der Atomstruktur der Materialien, die verwendet werden, um ein Haus zu bauen. Und sie ist es gewohnt, mit dem Cant der Unkin umzugehen, mit der Sprache, neben der Maschinencode wie ... die Pläne eines Architekten aussehen, die ein Irrer in einer Zwangsjacke mit einem Bleistift gezeichnet hat, den er zwischen den Zähnen hält.
Doch das ist etwas, mit dem sie es noch nie zu tun hatte. Es ist empfindungsfähiger als jede KI, aber weit mehr seiner eigenen abstrakten Logik unterworfen als die mechanischsten Programme. Es verfügt über ein Bewusstsein – sie kann spüren, wie es sie begutachtet, sie analysiert. Aber ist es sich nur der Gewissheit bewusst, über die Wirklichkeit zu bestimmen, und sonst nichts? Die Tinte, das Blut der vor langer Zeit gestorbenen Unkin, ist so sehr vom Cant durchdrungen, dass es mit ihm eins geworden ist, eine lebende, fließende Sprache. Und mit ihrem Arm bis zur Schulter im Vellum beeinflusst sie dessen Substanz, und das schwarze Zeug reagiert automatisch darauf, sucht nach einer schlüssigen Lösung, als habe es das Bedürfnis, zwei Seiten einer komplexen Gleichung, in der sie nur eine Variable ist, in Übereinstimmung zu bringen.
»Wenn Inanna aus der Unterwelt heraufkommen möchte, muss sie jemanden finden, der ihren Platz einnimmt.«
Die Schatten sind fest geworden. Sie muss sich durch die dicht strukturierte Raumzeit schieben wie durch Treibsand und dabei weiter auf das Wort konzentrieren, das diesen Zustand aufrechterhält. Sie muss auf jeden Fall von hier verschwinden, bevor sich die anderen befreien. Sie verlässt sich auf ihre Abmachung; sobald sie zur Tür hinaus ist, ist sie frei. Der Konvent wird sie nicht anrühren. Und sie werden sich um die Herrin der Toten kümmern. Zumindest hofft Anna das. Langsam weicht sie vor Eresch zurück und vor dem Engel, der die Göttin noch immer umklammert hält ... gerade noch so, wie es scheint. Aber da ist noch der andere Engel – fast wäre sie über ihn gestolpert. Er kauert noch immer auf dem Boden, und einen Moment lang zittert die Luft, als wäre sie lebendig, einen Atemzug lang, ein Blinzeln nur, bevor sie den Augenblick wieder zu fassen bekommt. Sie kann sehen, wie er den Rücken krümmt, den Kopf Eresch zuwendet, wie er die Hand mit dem Messer aus seiner Tasche zieht. Nur noch diesen einen Moment muss er durchhalten und den nächsten, der unaufhaltsam darauf folgen wird, sobald sie loslässt. Sie muss nur das holen, dessentwegen sie gekommen ist, und dann zur Tür hinaus verschwinden.
Das schwarze Zeug fängt an sich zu bewegen, dringt durch die Ritzen in ihrer Willenskraft wie eine Flüssigkeit, die ihr durch die Finger rinnt. Ihm gefällt die ... Logik dieses Ausgangs nicht. Es ist der Meinung, dass sie tot bleiben müsste, die geschändete und mit Narben gezeichnete Kreatur, die sie war. Sie stimmt dem nicht zu. Die rechte Hand noch immer vor sich ausgestreckt wie ein wahnsinniger König, der dem Meer befiehlt, sich zurückzuziehen, greift sie mit der anderen Hand
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