Vellum: Roman (German Edition)
von Sin und nach Eridu, zu Enkis Tempel. Sie hat mir das Leben gerettet. Nie werde ich euch Ninschubur überlassen.«
»Dann geh weiter, Inanna«, sprachen die Ugallu. »Und wir werden mit dir nach Umma gehen.«
Mit dem Flaschenöffner an ihrem Schlüsselring macht sie sich noch ein Bier auf und setzt sich wieder auf die Kommode, neben das Buch der Prägungen, das offen daliegt und Inannas Mal zeigt. Es unterscheidet sich von dem, das ihr auf den Arm tätowiert worden ist, aber es gibt auch Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten wie Unterschiede, und manchmal verändern sie sich. Sie spürt, wie sie selbst sich mit der Prägung verändert. Manchmal ist es wie ein Fieber, wenn der Zorn des Mädchens in ihr brennt, das einst geschworen hat, sie alle umzubringen, sie alle verdammt noch mal umzubringen! Dann wieder ist es, als sei die ganze Hitze fort, und sie hat das Gefühl, erneut tot zu sein, kalt und tot. Manchmal schaut sie in den Spiegel, ohne zu wissen, wer sie eigentlich ist, ob sich unter ihrer Haut überhaupt etwas befindet. Sie sieht sich in der abgewetzten schwarzen Lederjacke dastehen, sieht sich in einem schmutzigen härenen Gewand, zerkratzt sich die Wangen mit den Fingernägeln. Sie hat eine Menge Hotelspiegel zerschlagen, sie angeschrien. Auf ihrem linken Arm sind Brandwunden von Zigaretten – sie musste sich daran erinnern, dass sie noch am Leben war. Sie ist sich nicht völlig sicher, ob die Prägung, die Metatrons Bitläuse in sie heruntergeladen haben, völlig stabil ist, und das gilt auch für sie selbst.
Aber sie ist sicher, dass es die Sache wert war.
Sie blättert zur Zeichnung des Mals von Schamasch weiter und betrachtet sie lange. Dumuzis Freund, der versucht hatte, sie zu retten, und versagte. Es ist Finnans Mal, ganz ohne Zweifel, aber schlichter, irgendwie unfertig, wie ein ... Prototyp, wie die ursprüngliche Fassung einer Geschichte, die im Laufe der Jahrhunderte wieder und wieder erzählt und dabei immer komplexer wurde – eine Geschichte, in die sie sich närrischerweise hat hineinschreiben lassen.
Sie blättert weiter, bis sie die Prägung findet, nach der sie gesucht hat, das Mal von Inannas Hirtenjungen und Liebhaber, den Sumerern als Dumuzi bekannt, den Babyloniern als Tammuz. Während sie es betrachtet, fragt sie sich, ob das Mal, das sie auf Thomas’
Brust gesehen hat, als er in jenem Rasthaus in den Bergen sein Hemd aufknöpfte, schon immer so aussah, oder ob sich ihre Erinnerung unter der Nadel ebenso verändert hat wie sein Mal.
Ein Tor aus der Wirklichkeit hinaus
Vor dem Heiligen Schrein in Umma wartete Schara, Sohn der stolzen Inanna, in ein schmutziges härenes Gewand gekleidet. Er sah Inanna mit den Ugallu an ihrer Seite und warf sich ihr zu Füßen in den Staub.
»Geh weiter zu deiner Stadt, Inanna«, sprachen die Ugallu. »Wir werden Schara als Ersatz für dich mitnehmen.«
»Nein«, rief Inanna. »Nicht meinen Sohn, nicht Schara, der mich in Liedern preist, der mir die Nägel schneidet und mir mit den Fingern durch das Haar streicht. Nie werde ich euch Schara überlassen.«
»Dann geh weiter, Inanna«, sprachen die Ugallu. »Und wir werden mit dir nach Badtibira gehen.«
Sie gibt Gas und lässt das Motorrad an ihrer statt aufheulen, wie sie gerne aufgeheult, gegen die verdammten Unkin gewütet hätte, gegen Engel wie Teufel, alle zusammen, den ganzen verdammten Haufen. Sie will, dass sie alle tot sind. Sie will ihre Leichen sehen, blutig und zerschlagen. Sollen sie einander doch in Stücke reißen. Sollen sie einander doch das Herz herausreißen. Mögen die Teufel brennen und die Engel stürzen. Jeder einzelne dieser Scheißkerle soll am Kreuz hängen, wie er es verdient hat, wie jeder Gott es verdient hat. Phreedom wird so schnell wie möglich aus ihrer Welt verschwinden und sie ihrem Schicksal überlassen. Sie legt sich in eine Haarnadelkurve hoch oben am Steilhang, als hoffte, als betete sie darum, die Kontrolle zu verlieren. Aber sie fängt sich wieder, richtet sich auf und legt sich auf die andere Seite, um eine weitere Kurve mit derselben Geschwindigkeit zu nehmen. Splitt spritzt unter ihren Reifen hervor.
Der schwarze Wagen folgt ihr, dichtauf, aber sie bemerkt ihn nicht, ihr Helm und ihr Sieben-Meilen-Blick sind wie Scheuklappen.
Vor dem Heiligen Schrein in Badtibira wartete Lulal, Sohn der stolzen Inanna, in ein schmutziges härenes Gewand gekleidet. Er sah Inanna mit den Ugallu an ihrer Seite und warf sich ihr zu Füßen in den
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