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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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sagt er, »unter einem Baum mit goldenen Äpfeln und grünen Blättern.«
     
    Sie hält den Hautfetzen in Händen, den zerschlagenen Oberkörper gegen den Baum gelehnt, ganz blind von Blut und Tränen. Die beiden Kreaturen stehen hinter ihrem Bruder, aber die drei warten einfach nur – warten darauf, dass sie das Wort in einem von Sonnenschein und Schmerz erfüllten Augenblick ausspricht, der sich bis in alle Ewigkeit hinzieht. Er hält das Messer in der Hand, wird es aber an sich selbst nicht tun. Dabei muss er nur dieses kleine Stück aus sich herausschneiden, und dann können sie beide zusammen von hier verschwinden. Mehr muss er verdammt nochmal nicht tun. Sie beißt sich auf die Unterlippe und versucht sich aufzurichten, doch sie ist zu schwach, zu kaputt und verletzt, um etwas anderes zu tun, als sitzen zu bleiben. Aber sie lebt und sie ist frei, und sie schaut ihn an und hasst ihn dafür – dafür, dass er zulässt, dass sie lebt und frei ist und er nicht, obwohl er es doch sein könnte. Er könnte es verdammt nochmal sein, wenn er nur auf sie hören würde, nur dieses eine Mal müsste er tun, was sie sagt.
    Er lässt das Messer fallen.
    »Du Scheißkerl«, sagt sie, und die Dämonen packen ihren Bruder, zerren ihn von ihr fort in den Schleier aus Sonnenschein und grünem Gras hinein.
    Er schüttelt den Kopf. Sie begreift nichts. Alles wird gut.

Errata

 
     
    Unter einem Baum mit goldenen Äpfeln
     
    Der sommerliche Sonnenschein wirft an diesem Spätnachmittag lange Schatten, während ich über das Gras auf den dösenden Jüngling mit dem grünen Haar und dem kümmerlichen Spitzbart zugehe. Die Hörner eines Kitzes – eines Kitzes, das nie erwachsen wird – lugen neugierig aus seinem Wuschelkopf hervor. Er liegt gegen den Baum gelehnt da, malerisch müde, von sich ringelnden Rauchfähnchen umgeben, die von einer nachlässig gedrehten Tüte aufsteigen, zwischen Zeige- und Mittelfinger gehalten, die Hand lässig im Schoß. Ein völlig breiter Pan in grünen Armeehosen und mit zahllosen Perlen- und anderen Halsketten unter dem geneigten Kopf, manche alt, manche neu und manche aus der Zeit dazwischen. Sein Gesicht wirkt vertraut, ich kann es jedoch nicht einordnen, die Hörner passen nicht zu meinen Erinnerungen, und so nähere ich mich ihm eher verwirrt, mustere ihn mit zusammengekniffenen Augen, in dem Bemühen, das Rätsel seiner Identität durch einen verschleierten Blick zu lösen, wo ein scharfer Blick scheitern muss. Als ich noch etwa drei Meter von ihm entfernt bin, fällt mein Schatten auf diesen Obstgartengeist.
    Er führt die Tüte träge zum Mund, leckt sich kurz über die Lippen und zieht daran, hält die Rauchkringel, die Rauchfahne für einen Augenblick in seinem breit grinsenden Mund fest, bevor er tief einatmet, und diese Bewegung ist es, die ich schließlich wiedererkenne – ein lang vergessenes Gesicht.
    »Puck«, sage ich. »Thomas.«
     
    »Kennen wir uns?«, fragt er, blinzelt, klimpert angesichts der tief stehenden Sonne mit den Wimpern. Den Namen nimmt er einfach so hin, mit nur schwacher Neugier in den halb geschlossenen Augen, er will nicht wissen, wie ich auf diese Namen komme, sondern wer ich bin, warum ich sie kenne.
    »Reynard«, entgegne ich, aber ich weiß nicht, ob das diesem gehörnten Widerhall aus meiner Vergangenheit etwas bedeutet. Ist das mein Puck, Jacks feenhafter Geliebter und Joeys ›verdammte Tunte‹? Oder ist er nur ein artverwandter Avatar, aus demselben Holz geschnitzt, in dieser veränderten Welt tief im Vellum, ein Apfel vom selben Stamm, dieselbe schlüpfrige Schwuchtel, die sich genießerisch mit der Zunge über die Lippen fährt?
    »Reynard? Wie bei Reineke Fuchs?«, fragt er. »Der König der Diebe! Nicht schlecht.«
    Ich habe keine Ahnung, ob er das ernst meint, aber das hatte ich nie.
    »Ich –«
    Ich habe schon so lange nicht mehr mit jemandem gesprochen, dass es mir schwer fällt, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.
    »Ich stehe Euch zu Diensten, werter Herr«, sagt er mit einer affektierten Geste, die typischer für Puck nicht sein könnte; Glut wirbelt durch die Luft. »Was kann ich für Euch tun? Soll ich das Fluchtauto fahren? Ihr wisst, wie schnell ich fliehen kann. Oder bedürft Ihr eines Ablenkungsmanövers, wenn Ihr Euch mitten in der Nacht hineinschleicht, um die Kronjuwelen des Lichtgottes zu stehlen? Das gehört zu meinen Spezialitäten, müsst Ihr wissen.«
    Obgleich er offenkundig nicht der Puck ist, den ich kenne, ist er

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