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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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plötzlich bewusst, dass sie in der anderen Hand eine brennende Zigarette hält. Auf dem Tisch neben ihrem silbernen Zippo liegt eine Packung Marlboros. Sie kann sich nicht daran erinnern, sie dorthin gelegt oder auch nur aus der Tasche geholt zu haben. Anscheinend hat sie eine Zigarette herausgeklopft, sie zwischen Daumen und Zeigefinger genommen, sie umgedreht und sich zwischen die Lippen gesteckt und dann das Feuerzeug mit dem Daumen auf- und zugeschnippt. Sie schaut sich nach einem Aschenbecher um, hält den verfluchten Nikotindämon von sich weg, als hätte sie Scheiße an den Fingern und brauchte ein feuchtes Tuch. Ein Handzeichen zur Kellnerin hinüber. Ein Aschenbecher wird gebracht, ausgewischt und auf den Tisch gestellt. Danke.
    Sie zerdrückt die Zigarette auf dem Glasboden.
    Ihre Finger trommln wie von selbst auf den Tisch, während sie sich umsieht, auf der Suche nach etwas, das sie von dem Dämon ablenkt. Der Alte singt immer noch. Überraschenderweise nicht Country & Western, wie sie erwartet hätte, sondern eher etwas in Richtung Bluegrass – irgendwie schon Country, und nun ja, auch ein bisschen Western, aber volkstümlicher, mehr Blues, ehrlicher.
     
     
    Das flüssige Licht der Sprache
    Von den Steinen singt er alsdann, die mit machtvoller Hand geworfen, als die krächzende Krähe zur Königin sich aufschwang, bei jeder Versammlung vorlaut das Wort führte; singt vom Diebstahl des ursprünglichen Theós und seiner Folter auf dem Fels, stets den Adler vor Augen, der vom Aaskönig und von kampfmutigen Burschen erzählt. Von Bestimmung und Freiheit, von Dieben des Feuers.
    Singend erzählt er Chrom und Manifest, wie die Seeleute der Argot lauthals riefen, ihren körperlichen Verlust beklagten. Am Springbrunnen hatten sie sich verirrt und so riefen sie, bis — Ach! Ach! — ihre Rufe von festem Land zurückgeworfen ihnen folgten, als sie auf dem flüssigen Licht der Sprache erneut aufbrachen, das Land hinter sich ließen und alle fleischlichen Begierden, einen gefallenen Kameraden. Er wirkt den Glauben der Waffenbrüder. Er wirkt einen Zauber.
    Die beiden jüngeren Typen, der eine blond, der andere dunkelhaarig, lassen den alten Säufer nicht aus den Augen. Er singt ein schmalziges Lied über einen Krieg auf fremdem Boden, über einen alten Soldaten, der seine Hasenpfote verloren hat, der seine Freunde verloren hat, der seinen Glauben verloren hat und der in den Armen einer Hure nach magischen Glücksbringern sucht. Sie kann nicht einschätzen, von wann dieses Lied stammt, und sie erkennt es auch nicht wieder. Möglicherweise handelt es vom Zweiten Weltkrieg oder von Vietnam, von Korea oder vom Irak, vom Iran oder vielleicht sogar von dem namenlosen Inferno jener Konflikte, die zurzeit überall im Mittleren Osten ausbrechen. Vom Inhalt der Nachrichten eben, die hier im Ivans niemand schaut.
    »Hundemarken und Rosenkränze. Leichen flach wie Heringsschwänze. Portofrei nach Hause. Hundemarken und Rosenkränze. Bunte Flaggen und geschmückte Bäume ... schenken einer Hure keine Träume.«
    Der Blonde nimmt einen langen, tiefen Schluck aus seinem Bierglas. Er räuspert sich mit zusammengebissenen Zähnen. Im Nacken unter seinem Haaransatz kann sie eine Kette aus winzigen Stahlperlen sehen.
    »O Herrin, o Geschickse«, singt Silentium, während sich die anderen in der Taverne um ihn versammeln, seinem Liede zu lauschen.
    Er singt für jene, die nur Trost finden in ihrer verlorenen Liebe zu einem weißen Bullen, und für jene, die glücklicher gewesen ohne die riesigen Herden.
    »Welcher Wahn hat dich ergriffen? Die proteischen Töchter erfüllten die Flur mit falschem Gebrüll, doch schändlicher Buhlschaft mit Vieh ergab sich nie eine, wenn sie auch unter der Last des Joches gezittert und auf ihrer Stirn nach sprießenden Hörnern gesucht hat. O Herrin, o Geschickse, du schweifst durch die Wildnis, während er seine schneeweiße Flanke auf blühende Hyazinthen bettet, im Schatten der Steineiche kaut er das zartgrüne Gras, folgt einer Kuh aus der großen Herde.
    Im ganzen Lokal scheint es stiller zu werden, alle lauschen gebannt seinem Gesang. Hier und dort redet noch jemand, doch ein auf die Lippen gelegter Finger oder ein Rippenstoß sorgen für Ruhe. Sätze werden abgebrochen, und bald sind die Unterhaltungen so vereinzelt, dass sie Aufmerksamkeit erregen. Gesichter wenden sich um, Hälse werden gereckt, um über Schultern hinwegschauen zu können. Manch einer beugt sich aus seiner Nische oder

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