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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Rauchertisch führt – Macht der Gewohnheit –, freut sich ehrlich, sie zu sehen. Sie hat nicht das Gefühl, dass Hippie-Goth-Freaks hier nicht willkommen sind. Alles Bockmist. Die Leute haben nicht vor allem Angst, was sie nicht kennen. Merkwürdigkeiten blenden sie manchmal eben einfach aus und konzentrieren sich auf ihr eigenes Leben. Sie lassen nur das an sich heran, womit sie klarkommen.
     
    Und deshalb sind auf den Bildschirmen im Ivans keine Nachrichten zu sehen, weder auf dem riesigen Videoschirm hinter der hufeisenförmigen Bar, noch auf einem der kleineren Bildschirme in den Ecken. Im Ivans gibt es keine Nachrichten, nur Baseball, Football, Nazcar-Rennen und Karaoke. Heilige Scheiße. Karaoke. Sie wirft einen Blick auf die fotokopierte Ankündigung an der in dunklem Holz getäfelten Trennwand, und siehe da, heute ist der 12., da ist sie sich ganz sicher. Ihr Lächeln droht ihr zu entgleiten und sie fragt sich, was sie heute Abend wohl über sich ergehen lassen muss ... ›Stand By Your Man‹, ›Achy Breaky Heart‹ und derartigen Mist. So eine Scheiße. Aber sie hat bereits bestellt.
    In der Bar in der Nähe ihres Tisches ziehen zwei jüngere Burschen einen alten Säufer mit Bierbauch auf – komm schon, du musst da rauf, aber klar doch, Mann. Einer der beiden dreht sich zu ihr um, der Blonde ... irgendwie kommt er mir unangenehm bekannt vor – los, sag ihm, dass er singen soll.
    Sie lächelt, schlürft ihre Limonade und wünscht sich, sie könnte auch so betrunken sein.
    »Na los«, sagt sie zu dem alten Säufer. Warum soll sie nicht ihren Spaß haben, so wie die jungen Kerle auch.
    Und der Alte wischt sich mit der Hand über seinen dichten weißen Bergbart, grinst, rutscht unbeholfen von seinem Hocker und stolpert unter Pfeifen und Klatschen auf die Bühne.
     
     
    Das Lied des Silentium
    Er singt davon, wie rings im unendlichen Raum die Keime des Lands und der Luft wirbelnd miteinander verschmelzen, und mit ihnen Wasser und Feuer. Er singt, wie daraus alles entstand, auch das zarte Gewölbe der Welt, sich mählich entfaltete und wuchs, Offenbarungen seiner eigenen Zukunft. Dann wie die Erde sich formte aus dem Nichts, Festland sich trennte vom tiefen blauschwarzen Meer und die Welt nach und nach sich bildete zu flüchtigem Dasein, wie das Land die jung aufstrahlende Sonne bestaunte und wie aus höherentrücktem Gewölk nun Regen herabströmte, wie die Wälder zu sprießen begannen und die Tiere alsbald die wilde Bergwelt durchstreiften.
     
    Er singt von den ersten kleinen Geschenken, welche die unbestellte Erde darbietet, vom Fingerhut, der alle Täler durchzieht, vom lächelnden Bärenklau, der sich mit Feuerlilien mischt, vom wilden Efeu, der überall gedeiht. Ziegen tragen nach Hause milchstrotzende Euter und die Ochsen fürchten den mächtigen Löwen nicht; unsere Wiegen stehen auf blühenden Wiesen; die Schlange verendet unter giftigem Krautwerk und balsamische Düfte umschmeicheln die Hecken.
     
    So singt er von dem Mägdlein, das die goldenen Zitrusfrüchte pflückt, Photons ältere Schwestern umwebt er alsdann mit bitterer Rinde und lässt sie vom Boden schlank aufragen wie Pappeln. Er singt davon, wie ihn eine der Schwestern der Musen, während Galeonen auf gewaltigen Strömen dahinglitten, in die äonischen Berge entführte, wie rings um ihn der Reigen der Sonne sich erhob, wie der Hirte, ein gottbegnadeter Sänger, Blumenkränze im wallenden Haar und bitteren Eppich, zu ihm sprach:
    »Diese Flöten aus Schilfrohr hier nimm, eine Gabe der Musen, die sie einst dem asketischen Alten geschenkt, auf dass er Verse schmiede, um tief in der Zeit wurzelnde Eschen von Berggipfeln zu locken. Mit dieser singe vom Werden des strahlenden Forsts, des Apfelhains ganzer Stolz.«
     
    Er singt von späteren Zeiten, wenn wir alle endlich gelernt haben, rühmenden Heldengesang und die Taten der Vorfahren zu lesen und zu begreifen, auch was männlicher Mut sei, wie weich das Feld mit golden schimmernden Ähren wogt, rötlich reifend erglüht im wilden Hag die Traube, und aus knorrigen Eichen quillt tauperlender Honig.
    Blau wie Adern in weißem Marmor
     
    Er legt mir die Hand in den Nacken und zwingt mich mit sanfter Gewalt, ihn anzuschauen. Ich entziehe mich ihm.
    »Tom, sieh mich an.«
    Ich schaue hoch.
    Jack ist groß und gleichzeitig anmutig wie eine Katze. Seine Muskeln zeichnen sich unter der durchsichtigen weißen Haut ab; Adern schlängeln sich über sie, blau wie Adern in weißem Marmor.

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