Vellum: Roman (German Edition)
Sand bedeckt seinen Körper und sein Haar, das von der frischen Meeresbrise in alle Richtungen geweht wird. Noch immer nackt, wischt er ihn sich vom Leib, und wie stets fällt es mir ausgesprochen schwer, ihm in die Augen zu blicken, und noch schwerer fällt es mir, woandershin zu schauen. Auf seine vernarbte rechte Hand, die aussieht, als hätte jemand einen Nagel hindurchgetrieben. Auf die Narben, die ihm quer über die Brust laufen — Spuren von entsetzlichem Leid, von Missbrauch oder Buße. Die Fragen nehmen kein Ende. Ich bin mit den in Endhaven verbreiteten Vorstellungen von ›Schicklichkeit‹ aufgewachsen, mit schwarzen Anzügen und Krawatten. Und obwohl ich mich jetzt schon seit zwei Jahren mit Jack treffe, fühle ich mich angesichts seiner Nacktheit noch immer äußerst unwohl, ebenso wie er angesichts meiner Fragen.
Er steht einfach nur da, so gelassen wie ein Außerirdischer oder ein Engel, als hätte er keine Ahnung, was es mit dieser Sache auf sich hat, die die Menschen ›Sex‹ nennen.
Gefunden habe ich Jack vor zwei Jahren. Wie Treibholz war er ans Ufer gespült worden, mit dem Gesicht nach unten, halb in schwarzgrünen Seetang gehüllt. Kalt und tot. Es war früh am Morgen, als ich den Trampelpfad von der Stadt herunterkam, um den silbernen Tagesanbruch über dem Meereshorizont zu erleben. Und da lag er. Als Erstes fiel mir auf, dass die Möwen Angst vor ihm zu haben schienen. Sie stolzierten in einem Abstand von rund vier Metern um ihn herum, krächzten und flatterten mit den Flügeln, als wollten sie ihn verscheuchen. Dann sah ich den ausgestreckten Arm, die leichenstarre Hand zur Faust geballt. Und schließlich fielen mir — trotz des Seetangs — die Narben auf, die seine Brust kreuz und quer bedeckten. Da wurde mir klar, dass er war wie wir, wie wir alle in Endhaven — von der Nadel und dem Messer gezeichnet.
Aber Jack ist doch anders. Wir alle verfügen nur über die Erinnerung an eine Tätowierung und über einen diamantenen Fleck Narbengewebe auf Schulter oder Oberschenkel. Jacks ganze Brust dagegen ist mit einem filigranen Narbenmuster bedeckt.
»Tom«, sagt er. »Du bist noch jung und ich ... ich bin es nicht mehr. Ich habe gesehen, was dort draußen ist.«
»Jetzt hör aber auf«, erwidere ich. »Das hört sich ja so an, als wäre ich —«
»Jünger als ich«, fällt er mir ins Wort.
Man sieht es ihm nicht an. Zumindest nicht sehr. Mit seiner glatten Haut und den weichen Bartstoppeln sieht er nicht älter aus als höchstens fünfundzwanzig, und ich bin letzten Verdammnuar siebzehn geworden. Zornig blickt er zu den Möwen hoch. Schließlich seufzt er und fährt fort.
»Ich weiß, Tom, glaub mir. Ich weiß, dass du kein dummer kleiner Junge bist. Auch wenn dein Männergeschmack etwas zu wünschen übrig lässt.« Er lächelt verschmitzt. »Aber du hast keine Ahnung, was passieren kann, wenn man zu viel weiß. Menschen können sterben.«
»Wer stirbt? Was darf ich nicht wissen?«
Hast du es ihnen verraten? Die Frage liegt mir auf der Zunge. Wie ist es möglich, dass du lebst, dass du hier bist, ohne zu atmen, ohne Herzschlag? Hast du ihnen verraten, ob du überhaupt ein Mensch bist, ob du überhaupt einmal ein Mensch warst? Denn ich weiß nicht einmal das!
»Was soll passieren?«, frage ich. »Und wer? Wen hast du auf dem Gewissen?«
»Reden wir nicht mehr davon, Tom«, sagt er leise, und ich gebe klein bei, senke den Blick.
Die Möwen laufen auseinander, als ich die Dünen hinunterrutsche und näher komme. Der alles durchdringende Geruch von Salz und Seetang erfüllt die Luft. Von Verwesung nicht ein Hauch. Auch aufgedunsen ist die Leiche nicht, also kann er noch nicht lange tot sein. Es ist das erste Mal, dass ich einen Toten sehe, und ich habe Angst. Der Tod ist ein Teil der alten Welt, der Städte. In Endhaven sterben die Menschen nicht, sie verschwinden nicht einfach grundlos aus deinem Leben; deshalb sind wir auch hier. Deshalb haben wir die Stadt verlassen. Wenn die Menschen hier dahinscheiden, geht dem wenigstens eine Entscheidung voraus. Waagschalen werden gegeneinander gehalten. Es wird abgerechnet. Der Tod dagegen ist eine willkürliche, sinnlose Angelegenheit, er gehört zum Chaos der Stadt, die auf der Landspitze auf der anderen Seite der Bucht in sich zusammenfällt. Eine an den Strand gespülte Leiche.
Ich gehe in die Hocke, um etwas von dem stinkenden Grünzeug wegzuziehen. Dann schiebe ich ihm die Hand unter den glatten Oberkörper und drehe
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