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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Generator den Geist auf. Wir leben im 21. Jahrhundert und sind keine Amische oder Hippies oder dergleichen. Je älter ich wurde, desto mehr wurde mir klar, dass unsere kleine Maschinenstadt trotz der Hilfe des Lumpensammlers allmählich dem Verfall, der Verzweiflung und der Verlassenheit anheimfiel. Kinder haben ein kurzes Gedächtnis und Erwachsene sind geübte Meister der Selbsttäuschung, aber meine Erinnerung lässt mich nicht im Stich.
     
    Ich weiß noch gut, wie es war, den ganzen Winter ohne warmes Wasser auskommen oder bei Kerzenschein in einem Haus wohnen zu müssen, dessen Fenster mit Brettern vernagelt waren. Ich kann mich noch gut an den Zorn und den Groll erinnern, die das hervorrief, und welche Konsequenzen sie hatten. Ganze Familien stritten sich auf der Straße, schimpften und fluchten aufeinander, bis jemand den Lumpensammler herbeirief. Der musste bei Prügeleien eingreifen und sein Urteil über die Leute hinausschreien wie ein bigotter Prediger alter Schule. Ich weiß nicht, warum, aber ich erkannte bald, dass das Schlimmste, was einem passieren konnte, darin bestand, verbannt zu werden, geächtet. Erst später wurde mir klar, was die Dämmerung anrichten mochte.
    Jack entpuppte sich nach seiner Ankunft rasch als von Gott gesandter Handwerker, der sich mit den Geheimnissen der Maschinen bestens auskannte. Endhaven braucht ihn, vielleicht sogar mehr als den Lumpensammler, und trotzdem würden sie ihn am liebsten ins Meer zurückwerfen.
     
    Es liegt an seiner Fremdartigkeit, glaube ich, an seiner Andersartigkeit. Vielleicht möchten sie nicht daran erinnert werden, dass die Dinge nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Während wir wie wertloser Plunder unter dem schützenden Mantel des Lumpensammlers in Endhaven kauern, wird die Wirklichkeit anderorts in Stücke gerissen und wie Blätter davongeweht. In den Randbezirken der Städte wandeln die Toten, während die Lebenden von der Nacht aufgesogen werden. Jack ist aus dem Meer gekommen, aus dem Osten, wie die Dämmerung.
     
    Der Landesteg ragt aus den Dünen und zeigt wie ein Finger über das Wasser hinweg auf die rostrote, braun- und goldgefleckte Landspitze und auf die Betonknochen halb begrabener Riesen. Dort kämpfen die Möwen um Essensreste, Aas oder Fang — aus der Entfernung kann ich das nicht unterscheiden. Sie stoßen im Sturzflug vom Dach des ausgebrannten Hauses herab, in dem Jack sich eingenistet hat, krächzen heiser und stürzen sich in die Schlacht.
    Jack steht vor dem fast weißen Gebäude, das hinter ihm auf der Lauer zu liegen scheint. Hierher hat sich einst die Schickeria der Stadt an den Wochenenden zurückgezogen. Auf der dem Strand zugewandten Seite von quadratischen Pfeilern gestützt, mit einem Balkon, der sich in klaren modernistischen Linien um das ganze Gebäude zieht, dahinter die leeren Rahmen der Fenster und der Glasschiebetüren, sieht es aus wie ein Bunker. Ein Beobachtungsposten oder eine Geschützstellung.
    »Bleibst du?«, fragt Jack ein letztes Mal.
    Ich schüttle den Kopf, und er mustert mich mit einem schiefen Lächeln.
    »Irgendwann«, sagt er.
    »Ich muss los.«
     
     
    Die Rückkehr des goldenen Zeitalters
    »Nun erfüllt sich die Epoche kummervoller Gesänge«, so singt er, »und die Zeit selbst geht schwanger. Von neuem beginnt der Jahrhunderte mächtiger Kreislauf. ›Lauft, ihr Spindeln, o lauft‹, so mahnten in Übereinstimmung mit des Schicksals ewigem Plan die Parzen ihre Spindeln. Nun kehrt wieder die jungfräuliche Gerechtigkeit, kehrt wieder das Reich des Raben. Also beginnt die Zierde der Zeit und nehmen die großen Monde ihren Lauf, da du des Konsuls Würde verwaltest. Schaut, wie die Erde wankt und schwankt unter dem Gewicht des Himmelsgewölbes.«
    Der alte Sänger dreht sich unvermittelt zu ihr um. Sie hält seinem Blick für einen Moment stand, dann wendet sie sich ab, ohne sich darüber klar zu sein, was sie da gesehen hat – trunkene Weisheit vielleicht. Das Mikrofon legt er auf die Karaokemaschine zurück. Er braucht es nicht mehr. Die ganze Bar ist mucksmäuschenstill und hört ihm gebannt zu, wie entrückt. Sie steht auf und lässt einen Fünfziger auf die Untertasse fallen, um ihre Rechnung zu begleichen. Es ist spät. Sie muss los.
     
    »Die letzte Spur von Sünde werden wir bannen«, singt er, »und ist sie erst verschwunden, befreien wir die Welt aus ihrer langen Nacht der Angst. Seht, wie wir alle die künftigen Jahrhunderte herbeisingen. Denn nun kommt das Neugeborene des

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