Vellum: Roman (German Edition)
Pazifisten
Von den Herden singt er alsdann, von versklavten Seelen und Illusionen, von der uralten Macht, behörnt und brüllend, die wir alle verehren.
»O schließt, ihr Nymphen, ihr schöpfenden Nymphen, schließt die Wälder und Schluchten, ob unsere Augen vielleicht gewahren rings auf den Wegen die Spur des irrenden Bullen; vielleicht locken ihn die grüneren Gräser anderer Weiden oder der Geruch der verstreut grasenden Kühe seiner Herde. Von den Fährten des Viehs geführt, mag er dereinst nach Hause zurückfinden, in den Stall zurückkehren, zurück in den Garten.«
»Und wir müssen den Weg zurück in den Garten finden.«
Das Lied kennt sie. Sie sieht sich um, betrachtet die Gesichter der schweigenden Menschen und fragt sich, wie es möglich ist, dass sie damit etwas anfangen können. Himmel. Hippiemusik aus den Sechzigern passt einfach nicht hierher. Diese kleinstädtische Welt ist mittendurch gespalten; mit einem Fuß steht sie im 21., mit dem anderen in den Fünfzigern des 20. Jahrhunderts. VR-Simlinks und Apfelkuchen. Klar, die Technologie ist modern, größtenteils jedenfalls, aber die Ideologie ist retro. Und zwar auf eine völlig andere Art und Weise als, sagen wir, bei Großstadtkindern mit Tolle und Nasenringen. Sie hat die Fahnen vor allen Häusern und Kirchen flattern sehen, und um die Bäume sind sogar gelbe Bänder gebunden. Sie weiß, dass an Orten wie diesem niemand den Krieg auch nur erwähnt – oder besser: die Kriege. Und Fragen werden erst recht nicht gestellt.
Sie mustert die anderen Gäste und versucht, sich auf diesen Widerspruch einen Reim zu machen. Ein Kerl in einem ärmellosen karierten Hemd und mit der Tätowierung eines Armeekorpszeichens auf der Schulter nickt im Rhythmus der Hippiemusik mit dem Kopf. Die Kellnerin singt den Text des alten Liedes tonlos mit.
Dieses Paradoxon aus Patrioten und Pazifisten ist ihr zutiefst fremd.
Wie sollen wir die Geschichte erzählen von der tändelnden, nachtvollen Silia, von der er sagt, dass ihren leuchtenden Schoß manch Untier bellend umzingelt, von geplünderten Schiffen und zagenden Seeleuten, im wirbelnden Schlund von den Hunden des Meeres zerrissen? Oder davon, wie er der Tränen verwandelte Glieder besingt? Welch Mahl ihm bereitet und welche Geschenke ihm dargebracht? Wie sie befiedert und voller Verzweiflung ihr liebes Haus noch flatternd umkreiste und dann zur Wüste entwich?
Es gibt kein Fenster, durch das sie von ihrem Platz aus hätte hinausschauen können, aber der Uhrzeit nach müsste es draußen langsam dunkel werden. Vielleicht nimmt die Dämmerung hier so ihren Anfang, mit einer kaum merklichen Veränderung der Umgebung, der Atmosphäre. Tagsüber herrscht Gewissheit, klar und hell. Aber während der Dämmerung sieht die Sache ganz anders aus. Verdammt. Wenn sie in einem dieser Rasthäuser sitzt oder an einem der Fastfood-Restaurants anhält, um das gleiche billige und fettige Essen zu bestellen, das sie schon vor einhundert Meilen hinuntergeschlungen hat, von derselben Landschaft umgeben, die von nummerierten Schildern in ordentliche Straßenabschnitte aufgeteilt wird – dann vergisst sie manchmal, dass sie im Vellum ist. Das wird ihr erst wieder bewusst, wenn sie von der Hauptstraße abbiegt und einer Straße folgt, die nicht auf der Karte verzeichnet ist und die in eine Wüste aus rostfarbenem Sand hinausführt. Oder wenn sie in einem Motelzimmer den Fernsehapparat anschaltet und gerade ein CNN-Bericht läuft: über den Untergang von Atlanta oder über Guerillakämpfe im Mittleren Osten, die mit Maschinengewehren und Flammenschwertern ausgetragen werden.
Verfall, Verzweiflung, Verlassenheit
Das Schlimme an ihrem Hass ist, dass sie ihn brauchen. Bevor Jack angespült wurde, haben wir zwölf Jahre lang gelitten und uns durchgeschlagen. Der Lumpensammler verkauft uns fast alle wesentlichen Dinge, die wir nicht selber herstellen können — Medikamente, Maschinenteile, wasserfeste Textilien, solche Sachen. Fast könnte man sagen, dass wir in einem ländlichen Idyll leben, in einer ruhigen, stabilen Gesellschaft, die auf sich selbst gestellt überlebt und dem, was in den Städten geschieht, keine Beachtung schenkt. Aber Endhaven ist eine Stadt der Bankangestellten und Rechtsanwälte, der Sekretärinnen und Kassiererinnen und Friseusen — der tausend anderen Berufe und Gelegenheitsarbeiten, die ihre Bedeutung gänzlich verloren haben. Unseren Häusern sieht man ihr Alter an, und hin und wieder gibt ein
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