Vellum: Roman (German Edition)
lehnt sich mit Quietschen in das pralle Kunstleder zurück.
Er singt ein Lied über einen Bauernjungen und seine Schwester, die den Hof ihres Vaters verlieren. Sie muss mit ansehen, wie der weiße Bulle zum Schlachthof getrieben wird. Als sie ihren Bruder endlich findet, liegt er unter einem Apfelbaum – er hat sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Das Leben ist hart, und der Tod verheißt Frieden.
Was zum Teufel ist heute noch natürlich?
»Also, bleibst du jetzt noch ein bisschen?«, fragt Jack.
»Was?«, erwidere ich, von weither in die Gegenwart zurückgeholt.
»Herrgott, du bist erst seit ein paar Stunden hier, und schon willst du wieder weg. Du musst nicht gehen, das weißt du.«
Er legt mir einen Arm um die Taille, schnüffelt an meinem Haar, knabbert an meinem Ohr.
»Nein ... nicht unbedingt.« Sage ich. Aber eigentlich muss ich doch. Es ist Mittagessenszeit, ich werde erwartet.
»Zu Hause ist dicke Luft, was?«
»Sie schauen mich nicht einmal mehr an. Weißt du — sie finden nicht, dass es unmoralisch ist. Ich glaube, dass sie es für ... widernatürlich halten. Dabei müssten gerade sie es doch verstehen.«
Er lacht.
»Was zum Teufel ist heute noch natürlich? Du könntest bei mir wohnen, weißt du ... für immer.«
Ich möchte nicht nach Hause. Ich möchte bei ihm bleiben, und er will das auch — aber das reicht nicht. Jack ... Jack will nicht mit jeder Faser seines Daseins, dass ich bleibe. Er will, dass ich von selbst zu ihm komme, aus freier Entscheidung. Er legt es nicht darauf an, mich zu überreden. Manchmal kommt mir der kalte, tote Jack vor wie ein Vampir, der nach jemandem sucht, der bis in alle Ewigkeit an seiner Seite ausharren möchte.
»Ich fühle mich einfach nicht wohl dabei«, sage ich. »Sie sind meine ...«
Ich verstumme und murmle etwas, von wegen sie hätten sich doch immer um mich gekümmert. Und dazu seien sie eigentlich gar nicht verpflichtet gewesen. Schließlich hätten sie mich oder meine Eltern ja gar nicht gekannt.
»Du schuldest ihnen überhaupt nichts«, sagt er. »Das weißt du. Du schuldest niemandem etwas.«
Ich möchte, dass er mir sagt, ich würde ihm etwas schulden und ich müsse bleiben.
Jack kratzt sich an einer Brustwarze.
»Meinetwegen bist du zum Außenseiter geworden, stimmt’s?«
»Das habe ich schon ganz allein hingekriegt«, entgegne ich. Aber ich lüge und bin mir dessen bewusst. Ich bin kein junger Rebell, und ich weiß, dass aus mir ein Erwachsener wie jeder andere geworden wäre, hätte ich ihn nicht kennengelernt. Ein trautes Stelldichein mit einem netten Mädchen, das Gefallen an einem sensiblen Jungen findet — vielleicht beim Feuertagstanz, vielleicht sogar mit Mary-Jane. Als wir jünger waren, hat sie mir immer zugelächelt. Eine Frage, ein Ring, zwei Seelen werden eins. Ich würde zum Lumpensammler gehen und ihm abhandeln, was ich brauchte, um ein kleines Haus für uns zu bauen. Ich würde das Land bestellen, vielleicht sogar den Lehrerjob übernehmen, wenn der alte Hobbes sich zur Ruhe setzt. Ich würde weiterhin die weiche Haut im Nacken von Sam Finnegan anstarren. Ich würde mir weiterhin einen runterholen, den Blick auf Zeitschriftenseiten gerichtet, auf denen Schauspieler abgebildet sind, deren Hollywoodvillen längst auf den Grund des Pazifik gesunken sind. Aber ich würde eine Lüge leben.
Als ich Jack gefunden habe, hat sich alles verändert. Ein Engel, ein Inkubus, mein seidenweicher Jack. Die guten Leute von Endhaven haben ihn nie akzeptiert, und wenn ich ihn akzeptiere und vielleicht sogar mehr — nun, dann bin ich wie er. Anders.
Inzwischen habe ich die halbe Zeit das Gefühl, mich auf einer Brücke über einer Schlucht zu befinden. Auf der einen Seite Endhaven mit seinem Lumpensammler und allen anderen, die mir erklären, dass ich zu ihnen gehöre. Auf der anderen Seite Jack, der die Hand nach mir ausstreckt, mich wissen lässt, dass ich willkommen bin. Aber ich habe den größten Teil meines Lebens in Endhaven verbracht, und es fällt einem schwer, alles, was einem vertraut ist, einfach hinter sich zu lassen. Auch wenn dich deine Freunde einer nach dem anderen im Stich lassen und die Leute, bei denen du aufgewachsen bist, der Meinung sind, dass du in Behandlung gehörst. Der Lumpensammler ist immer noch da, und die Dämmerung lässt auch nicht lange auf sich warten.
Wenn ich doch nur die Kraft hätte, mich zum Außenseiter aufzuschwingen ...
Ein Paradoxon aus Patrioten und
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