Vellum: Roman (German Edition)
›Hysterie‹ und gottverdammte ›Neurasthenie‹, aber ja, und das gute alte ›unklare Diagnose‹, denn natürlich sind nicht die verdammten Schützengräben schuld, mein Lieber, nein, dir fehlt einfach der Mut, du bist ein verdammter Feigling. Verstehst du, nur die Scheißoffiziere leiden unter Schützengrabenneurosen und werden nach Craiglockhart geschickt, um Federball und Kricket zu spielen und ihre Scheißmemoiren zu schreiben.
Nicht dass er es ihnen übel nehmen würde. Nein, er hat nichts gegen diese armen Idioten, die den ganzen Trotteln Befehle erteilen mussten, damit die sich erschießen ließen. Wenn man genauer hinschaut, sitzen sie alle im selben Boot, da beißt die Maus keinen Faden ab. Und dieser Sassoon, nun ja — Seamus wünscht ihm viel Glück. Wirklich toll, wie er das Parlament mit seiner ›Erklärung‹ in helle Aufregung versetzt hat, die Zeitungen sind voll davon. Seamus hätte nur zu gern die Gesichter dieser Arschlöcher gesehen, als sie verlesen wurde. O ja, das hätte er gern gesehen.
Seamus schlürft einen Schluck Tee, diese schwarze und süße Brühe, die dem Tee bei der Armee so sehr gleicht, das es kaum zu fassen ist. Einen für mich und einen für dich und einen für die Kanne und einen als Glücksbringer. So süß wie nur etwas und doppelt so heiß. Aber klar, Mann, und die Schwestern sind wirklich süß, gar keine Frage, und für die ganzen armen kaputten Schweinehunde in ihrer Obhut wollen sie nur das Beste. Allerdings kommen sie Seamus ein wenig vor wie wohlmeinende, kauzige alte Tanten, die einem heulenden Säugling Süßigkeiten schenken und vor lauter Blindheit nicht sehen, dass der Säugling nur heult, weil er sich mit einem verdammten Brotmesser die Pulsadern aufgeschnitten hat. Herrjemine, was haben Sie denn da wieder angerichtet. Ach, aber machen Sie sich keine Gedanken, die Schwester wird es schon richten, ganz sicher, kein Grund zur Aufregung. Und während das Blut in einem fort herausströmt, reichen sie dir deinen Scheißtee und sagen: Hier, bitte, schön trinken, so ist es brav.
Brav. Als ob einer von ihnen brav wäre.
Er schaut sich im Zimmer um und mustert die anderen: Peake, der am Ecktisch über seinen Notizbüchern sitzt und in einem fort Karikaturen zeichnet, sämtliche Gesichter mit schweren Lidern und spitzen Nasen, böse Bilder von Adligen und Lakaien; Duggan, der mit zwei Pflegern am Tisch in der Mitte des Zimmers Rommé spielt; und der Neue, der am anderen Fenster sitzt und ebenfalls hinausschaut, wie ein verdammtes Spiegelbild von Seamus, aber er trägt eine Brille mit schwarz eingefärbten Gläsern, und unter den Augen hat er weiche rosafarbene Narben, vom Senfgas. Warum starrt der arme Schweinehund aus dem Fenster, wenn er doch blind ist, fragt sich Seamus. Andererseits — vielleicht starrt er aus dem Fenster, eben weil er die Scheißwelt dort draußen nicht sehen kann. Wenn er sie sehen könnte, würde er jetzt vielleicht in seinem Zimmer sitzen und sich nicht mehr hinaustrauen, wie manch anderer auch. Die armen Schweinehunde sitzen einfach nur da und zittern. Jesus Maria, einer von denen hört kein verdammtes Wort, das man zu ihm sagt, außer ›Bombe‹, und wenn er das hört, nun ja, dann springt er sofort auf und versteckt sich unter seinem verdammten Bett. Kein verdammtes Wunder, dass Seamus die meisten Patienten hier auf Inchgillan kaum zu sehen bekommt. Ach, aber zu hören bekommt er sie. Die ganze Nacht.
Doch nein, Schützengrabenneurosen gibt es nicht.
Seamus schlürft noch einen Schluck Tee und schaut wieder zum Fenster hinaus; er will nicht darüber nachdenken, denn wenn er über die anderen nachdenkt, denkt er auch über sich selbst nach. Und dann bekommt er immer seine Anfälle, dann senkt sich wieder diese Last auf ihn und er hört das Flüstern, ein Geräusch wie ein kalter Windhauch, wie das Rauschen von Schwingen, wie ein Hämmern. Nein, sagt er sich, denk nicht darüber nach.
Er pustet in den Becher und atmet den Dampf ein, spürt seine Wärme in Mund und Nase; der Geruch, der ihm so vertraut ist wie —
Was für ein geheimer Geruch?
Er fährt ruckartig herum und heißer Tee spritzt ihm auf die Hand. Aber da ist nichts, nur der Flügelschlag einer Möwe, die zur Landung ansetzt. Nun stolziert sie draußen über das Fenstersims und schaut ihn mit ihren schwarzen wachen Augen an. Sie krächzt, ein rauer Laut, der das ferne Rauschen der Brandung übertönt. Welch Echo, sterblich oder göttlich oder beides, wehet
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