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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Somme, als sie wochenlang im nicht enden wollenden Sperrfeuer der Deutschen ausharren mussten und der arme Thomas den Verstand verlor und der englische Hauptmann, dieser Wichser — Carter hieß er, verdammtes Arschloch —, den Befehl erteilte, ihn wegen Fahnenflucht im Angesicht des Feindes hinrichten zu lassen? Und wie Seamus vors Kriegsgericht gestellt werden sollte und die Anklage dann fallen gelassen wurde — das steht bestimmt drin. Aber steht auch was drin über die Entscheidung, vor die er gestellt worden war und wie der Hauptmann ganz beiläufig darum herum geredet hat? Eigentlich blieb ihm überhaupt keine Wahl — Kriegsgericht oder Fronteinsatz, alter Junge — ach übrigens, es geht morgen los, mit oder ohne dich. Und wie hätte er die Jungs im Stich lassen können? Und das verdammte Viktoriakreuz, das er danach bekommen hat — Scheiße — nach dem verdammten Gemetzel.
    »Erzählen Sie mir, was Sie möchten«, sagt der Arzt. »So offen, wie Sie möchten.«
    »Was möchten Sie denn wissen?«, fragt Seamus.
    »Diese ... Sache, in die Sie da verwickelt waren. Die Einzelheiten sind ziemlich vage, aber Sie wirken auf mich, wenn ich das sagen darf, recht verbittert. Sie haben das Gefühl, dass Sie entehrt und beleidigt worden sind, nicht wahr? Ich weiß, wie schmerzlich es für Sie sein muss, darüber zu reden, aber bitte .. versuchen Sie es.«
     
    Darüber zu reden ist ebenso schmerzlich, wie nicht darüber zu reden, denkt er. Ich ziehe dabei auf jeden Fall die Arschkarte.
    »Nun, lassen Sie’s mich mal so ausdrücken«, sagt Seamus. »Nachdem die da oben den Krieg angefangen hatten, gottverdammte Streithähne, die sie sind, dachten zu Hause die meisten, jetzt wär es so weit. Die Scheißraben werden den Tower von London verlassen, wenn Sie verstehn, was ich meine. Na und, sag ich, das ist nicht unser Krieg. Tja, aber einer meiner Freunde, ein wirklich braver Kerl, nun, der kriegte sich nicht mehr ein von wegen, wir müssen den Kaiser vom Thron stoßen, für die ›Freiheit der Kleinstaaten‹ kämpfen und dergleichen mehr. Natürlich gab es auch genug andere, die sagten, vergiss den ganzen Scheiß. Jetzt müssen wir handeln, sagten sie. Lasst uns die verdammten Briten vom Thron stoßen. Verstehn Sie?«
    Seamus lehnt sich zurück und wartet ab, wie der Arzt reagieren wird.
    »Tja, aber wie mir meine geliebte Mutter mal erklärt hat — ach was, bestimmt hat sie es mir hundertmal erklärt, sie war wirklich ein Goldstück, aber wenn sie sich in Rage geredet hatte, fand sie kein Ende mehr ... Nun, jedenfalls hat sie mir oft genug erklärt: Seamus, hat sie gesagt, mit roher Gewalt erreicht man gar nichts. Seamus Padraig Finnan, wenn du vorankommen willst, musst du deinen Kopf benutzen.«
    »Ein vernünftiger Rat«, sagte der Arzt.
    »Klar doch. Aber erzählen Sie das mal den verdammten Königen, die das Schicksal der Welt lenken ... und die Gefühle der jungen Leute. Herrgott, aber ... hören Sie ... wo ich aufgewachsen bin, da hatte niemand etwas für ... neunmalkluge Schlauberger übrig ... für diese Scheißintellektuellen, die in ihren Scheißklubs am Kamin sitzen und ihre großartigen Pläne schmieden, ohne den geringsten Weitblick. Und ich, wissen Sie, ich lern da einen wortkargen jungen Kerl von der Universität kennen, der mag Gedichte und solchen Mist, ein wirklich netter Bursche, wenn auch etwas, na ja, leichtfertig vielleicht. Aber seine Schwester, die ist wirklich eine Klasse für sich.«
    Finnan lächelt verschmitzt.
    »Jedenfalls hab ich bald kapiert, dass die Idioten mit den großartigen Ideen genauso schlimm sind wie der ganze Rest. Scheißkriege und Scheißrevolutionen — das ist doch alles dasselbe. So oder so verrecken Menschen dabei.«
    »Aber ich kann mich natürlich nicht so ausdrücken, dass ein ›gebildeter junger Mann‹ auf mich hört! Glauben Sie, dass einer dieser Idioten mir zugehört hätte?«
    Seamus kann sich nur zu gut daran erinnern, wie ihn Thomas und seine Freunde vom Trinity auslachten. Sie waren sich ihrer herablassenden Haltung gar nicht bewusst. Und natürlich wollte er sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihn das traf — er hatte was erlebt, er kannte sich aus in der Welt. Aber er weiß noch genau, wie sehr ihn das Wissen schmerzte, dass sie ihre Hänselei noch bitter bereuen würden, wenn sie erst mal über den Tellerrand schauten. Dort lauerte die große weite Welt darauf, dass sie ihr lachend in den aufgerissenen Rachen liefen. Himmel Herrgott, hatte er

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