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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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mir da zu? Nein. Nein. Halt’s Maul, du Mistvieh.
    Er erwidert den Blick der Möwe, voller Hass, voller Verachtung, ohne den Grund dafür zu kennen. Es ist nur eine verdammte Möwe, aber — wozu sonst kam sie zu dieser abgelegnen Felsenkluft, als meine Not zu schaun?
    Halt’s Maul! Himmel Herrgott, halt’s Maul.
    Die Möwe flattert mit den Flügeln und starrt ihn weiter an. Er spürt, wie er eine Gänsehaut bekommt, er spürt, wie sein Herz gleich Vögeln der Wildnis schlägt. Eine weitere Möwe landet auf dem Fenstersims und noch eine und noch eine, sein Stuhl schrammt über den Boden, er steht auf und weicht von der Glasscheibe zurück — weh mir! — ach Scheiße, verdammte Scheiße, was soll das, was soll das, was nahet sich mir da? Himmel Herrgott Jesus und Maria, doch er hört nur, wie die Luft vom Rauschen leichter Flügel erfüllt wird — er wirft die verdammte Tasse durch das verdammte Fenster nach den Möwen, nach der Welt dort draußen — nach allem, was da auf ihn zukriecht — und die Pfleger packen ihn mit grober Hand — mir graust — aber ihn hat bereits etwas anderes gepackt, kaltes Metall, das sich um seine Seele schließt und sie durchbohrt, während die Vögel mit den Flügeln schlagen und ihre schrillen Schreie sich im Chor über die Felsen erheben, wie Raben, die sich streiten, um — O Himmel, nein —
     
     
    Chor
     
    Und schneidend fährt hinab ein kalter Wind in tief geschlag’ne Schädelhöhlen, weithin ertönt des Hammers hallender Schlag. Schlaflos und von göttlichen Träumen erfüllt, umtosen die Stürme den Herd, der See entsprungen und den Ketten entflohn, stiften Unfrieden, schüren schamlosen Streit, verleihen Flügel, auf dass sie scheu sich versammeln. In der Finsternis seines Schädels regen sie sich, und sein Herz ist von verräterischem Stahl durchbohrt. Sogar des Schöpfers Wille ist gebrochen! Bitläuse erheben sich, schwingen sich empor auf geflügelten Wagen, eilen dem menschenöden Fels entgegen  ...
    Finnan schaut zu, wie die Dämmerung durch die Schlitze zwischen den Plastikstreifen hereinströmt, die vor dem Eingang des Schlachthofes herabhängen. Schwarze Staubwolken tanzen in der kalten Luft, umtänzeln die funkelnden Eisschauer, die von den Kadavern herabfallen, winden sich um den aufsteigenden Dampf in der Gefrierkammer, ranken sich um seinen dampfenden Atem, kommen näher, immer näher. Er zieht den Kopf ein, aber dabei schneidet ihm der Draht ins Handgelenk. Herrgott, er kann spüren, wie sie nach seinen Gedanken greifen.
    »Fürchte nichts«, beschwichtigen sie ihn freundlich zischend. »Still«, flüstern sie ihm ins Ohr.
    Die Stimme ist wieder da.
    »Sehet mich an, gebunden, gepeinigt – mit Adamantiumketten an Felsen geschmiedet, halte ich Wacht, von keinem beneidet.«
     
    Sie sehen ihn, so sagen sie, und vor Entsetzen trübt sich ihnen der weitschauende Blick, ein schrecklicher Nebel erfüllt ihre von Tränentau schweren Augen. Sie sehen seinen Leib, zerschmettert am Felshang.
    Er schüttelt den Kopf, kann das Tosen nicht länger ertragen, will sich über seine Lage beklagen. Für einen Moment huscht der schwarze Staub vor ihm davon, sein Kopf wird frei. Er heißt Seamus Finnan und das Jahr ist ... 2017. Ach, Scheiße. Verdammte Scheiße. Er spürt, dass der Hühnerdraht an Hals und Handgelenken am stärksten festgezurrt ist. Er windet sich. Die Bitläuse, die ihn umkreisen, kommen wieder näher und berühren sein Gesicht wie mit tastenden Fingern, erkunden sein Gehirn. Er ist Seamus Finnan, sagt er sich immer wieder. Er ist Seamus Finnan, verdammt nochmal. Aber er spürt, wie ihr verfluchter Insektenintellekt forschend herumschnüffelt, sich an Erinnerungen zu schaffen macht, die mit seinem Gedächtnis so unlösbar verbunden sind wie er mit diesem Stuhl. Und sie lösen sie langsam heraus.
    »Ach«, zischen sie, »neue Herren lenken die Himmel, und die Herzöge stärken ihre Macht mit neuen Gesetzen, welche die alten außer Kraft setzen. Was früher gewaltig schien, zermalmen sie ... nicht weiß er seinen eignen Namen oder Stand, und auch sein Schicksal ist ihm unbekannt, großer Weitblick sich unter seiner Braue find, der einst alles sah, ist heute blind.«
    Und Finnan spürt, wie die Stimme, die nicht die seine ist, wieder aus ihm hervorbricht.
    »Ach, hätten sie mich doch hinabgeschickt unter die Erde in grausam unlösbaren Ketten, wo Hass den Toten Wohnung gibt, zu Pechterrassen und unüberbrückbaren Klüften, damit kein Herr und auch

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