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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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erdulden muss.«
    Die Stimme, die aus seiner Kehle rinnt, und mag sie noch so erstickt sein, knurrt auf einer Frequenz, die in der milchigen Luft des Schlachthauses Wellen schlägt. Eiskristalle funkeln, fallen klirrend von den gefrorenen Kadavern, die hier überall hängen. Reihe um Reihe baumeln sie an Haken an Ketten an Schienen, Rippe an Rippe, mit weißem Frost überzogene Fleischbrocken. Finnan brüllt sie an wie ein Revolutionär, der vor einer Menschenmenge spricht. Er hört die Worte, die ihm aus dem Mund strömen, aber er versteht sie kaum. Es ist, als würde ihm ein Übersetzer in ein Ohr schreien und ein gefangener Hunne in das andere. Mit einem Unterschied: Finnans Stimme spricht in beiden Sprachen gleichzeitig.
    »Sehet die hässlichen Ketten, die der neue Gebieter der Unsterblichen mir zugedacht. Ach, welche Schmach! Sehet, welche Qualen ich im Laufe der Jahrtausende meines Lebens erleiden soll. Wann wird jemals ein Ende sich zeigen? Ach, welche Schmach! Vergeblich wehklag ich um das Leid, das heute und morgen unser harrt.«
     
    Mit gebleckten Zähnen und geweiteten Nüstern hört er die Worte aus seinem Mund kommen. Er spürt, wie sie sich aus der offenen Wunde in seiner Brust aufwärts eine blutige Bahn brechen und zwischen seinen Lippen hervorspritzen. Was zum Teufel rede ich da? Wo zum Teufel kommt das her?
    »Klar seh ich alles nun voraus«, brüllt er Henderson hinterher. »Kein Übel naht sich mir unerwartet. Weiß ich doch alles, was geschieht. Die Macht des Schicksals werde ich erfahren. So will ich denn mein Los gelassen dulden. Doch weder werde ich euch sagen, was ihr hören wollt, noch verschweigen mein Geschick.«
    Er schreit es hinaus, schreit in einem fort, bis sogar die Luft erbebt.
    »Weil ich den Menschen Heil gebracht, drum trag ich qualvoll dieses Joch. Des Feuers Urquell habe ich gestohlen, in einem hohlen Schilfrohr heimlich es davongetragen, der Menschen Lehrer aller Kunst und Helfer voller Macht. Und diese Strafe büß ich jetzt für meine Schuld, in Ketten angeschmiedet hoch in freier Luft.«
     
    Der weißäugige Finnan schleudert seine Beschwörung laut hinaus – ein Brüllen, das tief aus seinem Inneren emporsteigt, so tief, wie fast ein Jahrhundert lang nicht mehr. Hier, in diesem Beinhaus, weit weg vom Morast der Somme, weit weg von jenem blutigen und schmutzigen Augenblick, als er das erste Mal spürte, wie dieses wilde Wesen ihn durchbohrte, hier spürt er, wie ihn der Fleischerhaken gleich einem Adamantiumkeil durchbohrt, in seine Brust eindringt, in sein Herz und den Fels der trostlosen kaukasischen Berge – in das Vellum.
    Ein Teil von ihm ist noch immer bei Bewusstsein, ist noch immer Seamus Finnan. Aber in diesem Moment wird dieser Teil unter einer Flut blendender Schmerzen begraben, unter den Flüchen eines in Ketten gelegten Gottes.
    »So seht den glücklosen Fürsten«, brüllt er, »den Feind der Herzöge, der allen Göttern verhasst, die da eingehn in des Himmels herrliche Hallen, zu sehr hat er seine Knechte geliebt.«
    Und irgendwo dort draußen, während die Dämmerung hereinbricht, werden seine Worte gehört, und eine Antwort regt sich in der nächtlichen Luft, die von einem Staub erfüllt ist, der wie Schatten fließt und wie Flügel flattert.
     
     
    Kriegssanatorium Inchgillan, 1917
     
    Er sitzt da und schaut aus dem Fenster. Die Möwen ziehen über dem kalten grauen Meer und dem kalten grauen Fels ihre Kreise. Am liebsten wäre er weit weg, aber er sitzt hier, spürt das harte Holz des Stuhls unter dem Arsch und das harte Holz des Tisches unter den Ellbogen, die Finger gegen die quietschende Scheibe des Schiebefensters gepresst, als könnte er sich auflösen und darin verschwinden. Das große Haus ist zugig, und ganz gleich wie sehr sie es mit Farbe auftakeln, mit weißem Lack auf der Holzvertäfelung und dem glänzenden Linoleum auf dem Boden, können sie doch die Tatsache nicht verbergen, dass sie hier alle scheißeinsam sind, all die Verrückten, Verstümmelten, Blinden und Zitternden. Früher war dies die ›Anstalt Inchgillan‹ und noch früher das staubige alte Schloss irgendeines staubigen alten Gutsherrn. Seamus fragt sich, welches Rindvieh auf den Gedanken gekommen war, sie zur Genesung in die verdammten schottischen Highlands zu schicken. Damit sie hier herumhockten und froren, als wären kaputte Nerven nicht schon schlimm genug? Aber halt, es heißt nicht mehr einfach nur Schützengrabenneurose, sondern ›Angstneurose‹ und

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