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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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verstehe, was Sie durchgemacht haben. Aber ich habe auf Inchgillan genug gesehen, um zu wissen, dass Beschwichtigungen und bloßes Gerede nur wenig helfen, wenn überhaupt.«
    Er zieht an seiner Zigarette.
    »Aber ich möchte Ihnen wirklich helfen, Seamus. Glauben Sie mir, ich möchte Ihnen helfen.«
    Und Seamus fragt sich, wie dieses Arschloch dazu kommt zu glauben, ein Stromstoß von 150 Volt an seiner Zunge würde ihm helfen.
    »Ich möchte Ihnen helfen, diese Krankheit zu überwinden.«
     
     
    Die zweite Hauptstadt des Imperiums
     
    »Ich will Ihnen helfen, gegen diese Schweine zu kämpfen«, hatte er gesagt, nach einem der Vorträge über Volkswirtschaft am Sonntagnachmittag. Die anderen Arbeiter waren bereits gegangen. Er hatte Feuer gefangen, all die neuen Ideen und die Wörter wie ›Proletariat‹ und ›Imperialismus‹ hatten ihn beeindruckt. Maclean hatte Seamus einigermaßen interessiert angeschaut, obwohl er immer wieder ins Stocken geriet, und er hatte auch überhaupt nicht herablassend gewirkt, nicht der typische Intellektuelle mit seinem Bücherwissen, der den ungebildeten Massen erzählen will, was gut für sie sei. Nein, er hatte nur die Brille abgenommen und gewartet, bis Seamus fertig war. Dann hatte er genickt.
    Dabei hatte Seamus nicht einmal gewusst, dass er das machen würde, bevor er den Mund aufgerissen hatte und die Wörter nur so aus ihm herausströmten, nicht einmal, als er sich nicht rühren konnte, während die anderen hinausgingen und Maclean seine Notizen zusammenpackte, um sie in seine Ledermappe zurückzutun. Auch hatte er den Entschluss nicht von jetzt auf morgen gefasst. Eigentlich war die Entscheidung längst gefallen. Er hatte dies gesagt und jenes getan, ohne es selbst zu merken.
     
    »Kein Mensch auf der ganzen weiten Welt«, sagt Maclean, Lehrer und Revolutionär, auf der Anklagebank im Edinburgh High Court, »keine Regierung«, sagt er, »wird mich daran hindern, das zu äußern, was ich für richtig halte — und gegen jedes Unrecht zu protestieren. Ich stehe hier als Ankläger des Kapitalismus, der von Kopf bis Fuß mit Blut getränkt ist.«
    Fünf Jahre hatte ihm das eingebracht, wegen Volksverhetzung. Nach acht Monaten war er jedoch bereits entlassen worden — vorher hatte es Woche für Woche Protestmärsche gegeben.
    Und Seamus hört dem Schweißer zu, der seinen Kumpels seine Geschichte erzählt. Sie sitzen im Sarry Heid zusammen, trinken ihr Lager und ihr Stout. Der Schweißer erzählt von einem Pazifisten, der den Mieterstreik der Arbeiter in den Rüstungsfabriken und der Mädels in den Neilston-Mühlen angeführt hat, und wie er und der Rest des CWC den ganzen Saal übernahmen und Lloyd George mit Red Flag übertönten, als er auftrat, um den wilden Kerls von der Clyde ›den Kopf gerade zu rücken‹.
    Muir und Shinwell, Kirkwood und Gallacher. Maxton, Stewart, Johnston, Wheatley. Ladengehilfen. Parlamentsmitglieder. Lehrer. Prediger. Ihre Namen werden von diesen Männern nur mit größtem Respekt ausgesprochen. Aber John Maclean — Maclean ist eine verdammte Legende.
     
    Die Polizisten greifen hart durch, kommen wie ein verdammter Reitereiangriff über sie mit ihren dämlichen Holzknüppeln, mit denen sie auf ihre Köpfe eindreschen, und einer von ihnen steht oben auf den Stufen des Rathauses und will den ›Riot Act‹ verlesen. Nun, denkt Seamus, deinen Aufruhr kannst du haben. Um ihn herum bricht Chaos aus. Pferde wiehern und die Formation der Arbeiter löst sich auf. Aber sie fliehen nicht, sie drehen sich nur um — schließlich sind viele kampferprobte Veteranen darunter — und wenden sich den Stahlstangen und den Flaschen zu, die auf der Ladefläche des Lastwagens bereitliegen. Die Plane wird fortgezogen, zwanzig oder dreißig Männer bedienen sich und gehen zum Angriff über. Jetzt sind sie bewaffnet und sie werden kämpfen. Glasgow wird nicht umsonst die zweite Hauptstadt des ›Empire‹ genannt. Nun, vielleicht nimmt der Untergang des Imperiums hier seinen Anfang.
    George Square, 31. Januar 1919. In den Geschichtsbüchern, die niemand schreiben wird, werden sie ihn den ›Blutigen Freitag‹ nennen.
     
    »Ich will Ihnen helfen, gegen diese Schweine zu kämpfen«, hatte Seamus gesagt, nachdem er vier Wochen lang jeden Sonntag zu Macleans Vorträgen gegangen war und ihm zugehört hatte. Maclean hat die Prinzipien des Sozialismus so erklärt, dass sogar Seamus ihn versteht. Seamus war bereits zweimal bei einer Ausschusssitzung in der Bath Street

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