Vellum: Roman (German Edition)
zur turanischen Sprachfamilie [ die Sprachen der zentralasiatischen Gebirgszüge Ural und Altai, habe ich mir sagen lassen ] gehören — davon haben mich die erhaltenen Fragmente überzeugt —, oder dass der Ursprung von Sumer in Aratta lag. Aber alles deutet auf das Gebiet um den Vansee hin, nur dort kann sich die Stadt befunden haben. Sie im Zentralkaukasus zu suchen, war einfach verrückt. Ist es noch immer.
Es erstaunt mich zutiefst, dass Pechorin Bescheid weiß. Es sei denn ... seine Erinnerung ist tatsächlich gestört. Er spricht im Schlaf, aber das ist nicht Russisch, sondern — ein gemurmelter Singsang, der mir nur allzu vertraut ist. Aber vielleicht träumt er ja nur; wenn er wach ist, schweigt er meist. Ob er nun mit den Nazis zusammenarbeitet, oder ebenso ein Gefangener ist wie ich ... und seine Motive begreife ich überhaupt nicht. Wenn er mich anschaut, sehe ich dieselben kalten Augen, die auch mich aus dem Spiegel anstarren. Ich habe versucht, meine Erinnerungen an diese Expedition in Alkohol und Haschisch zu ersticken. Vielleicht war er damit erfolgreicher.
Ich muss allein mit ihm sprechen, muss herausfinden, an wie viel er sich wirklich erinnert. Kennt er die Bedeutung der Worte, die er im Schlaf murmelt? Weiß er wirklich, was uns bevorsteht? Ich fürchte, er hat den Nazis eine Reihe von Lügen erzählt, nur um uns an diesen gottverlassenen Ort zurückzuführen.
Weckt keine schlafenden Götter
Pechorin streitet alles ab.
Lieber Herr Carter, heißt es in seinem Brief vom 9. August 1999 , ich habe die Kopien der Unterlagen Ihres Großvaters durchgesehen, die Sie mir schickten, und ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich gelogen habe. Ich bitte Sie um Verzeihung. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es besser ist, diese Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen! Dieser Albtraum ist in Vergessenheit geraten, und das soll auch so bleiben! Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht die Entscheidungen und Urteile bereue, die ich damals gefällt habe. Aber was kann ich nach fünfzig Jahren in einem Gulag an meinem Leben noch ändern? Wie soll ich das, was ich getan habe, wiedergutmachen? Möge ich anderen – Ihnen – als Warnung dienen! Wecken Sie keine schlafenden Götter. Fragen Sie nicht nach der Wahrheit, dann muss ich sie auch nicht unter Lügen begraben. Bitte lassen Sie diese Angelegenheit ruhen – wir sind nicht nach Aratta gelangt.
Und doch:
20. März 1921. Kaum haben wir die sichere alte Heeresstraße verlassen, ist das Wetter deutlich schlechter geworden. Gewitterwolken verdecken die Sonne, und die Berge um uns herum sind hinter Nebel und Schneeregen verschwunden. Die grauen Felswände vor uns wirken noch unbezwingbarer als zuvor. Der Weg entlang des Terek flussaufwärts führt uns nach Norden und Westen und immer höher hinauf.
Mein Verdacht, dass der Professor uns etwas vorenthält, wächst beständig. Zwar marschiert er stramm weiter, aber es ist ihm anzusehen, dass ihn etwas beschäftigt — irgendeine Idee lässt ihn nicht los. Falls es sich dabei um etwas handelt, das ich wissen sollte, wäre ich froh, er würde mich einweihen und mich nicht länger im Ungewissen lassen. Die meiste Zeit verbringt er mit Pechorin, der, wie sich herausgestellt hat, ein recht brauchbarer Sprachwissenschaftler ist, auch wenn man das nicht vermuten würde, wenn man ihn so sieht.
Pechorins Männer sehen mehr denn je aus wie Halsabschneider, aber ich frage mich, ob ich ihn nicht unterschätzt habe. Trotz seines wilden Äußeren verraten seine Ausdrucksweise und sein Verhalten gelegentlich eine gewisse Bildung und eine Kindheit in privilegierten Verhältnissen. Vermutlich ist er ein typischer Nihilist, ganz von der Endlichkeit seines Lebens durchdrungen. Vermutlich träumt er von einem heldenhaften Leben und einem ebensolchen Tod und verbirgt seine Vergangenheit hinter herablassendem Schweigen. Seine Augen verraten jedoch eine wache Intelligenz. Wenn er sie nur nutzen würde! Es mag kleinlich und gehässig klingen, aber ich kann ihn nicht leiden. Ich vertraue ihm nicht im Geringsten.
Die Schicksalstafeln, das Totenbuch
10. September 1942, in der Nähe von Karacaevsk. Von den brennenden Ölfeldern Maikops aus sind wir mit den Panzerbataillonen der SS nach Osten aufgebrochen. Irgendwo nördlich von Tscherkessk haben wir uns von dem eigentlichen Truppenverband getrennt und die wilde Landschaft entlang des Kuban durchquert. Bald werden wir den
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