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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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jegliche Vernunft hat fahren lassen und uns beide zum Narren gehalten hat. Und doch will ich ihm vertrauen.
     
    Ich will ihm noch immer glauben. Aber wie kann ich diesen Wahnsinn gutheißen, diese verrückte Vorstellung von einer vorsintflutlichen Gesellschaft, die nicht durch Wasser ausgelöscht worden sein soll, sondern durch Eis? Denn wir reden hier nicht von der Jungsteinzeit, sondern von der Altsteinzeit! Als Archäologe und Sprachwissenschaftler kann ich Hobbsbaum nicht das Wasser reichen, das ist wahr (mein Studium wurde von den Boches recht rüde unterbrochen), aber selbst ich weiß, dass wir, wenn wir von einer Sprache wie dem Turanischen sprechen, dem ursprünglichen Turanisch, von einem Zeitalter reden, lange bevor die Menschen an den Ufern von Euphrat und Tigris ihre Lehmhütten errichtet haben, lange vor den Mauern von Jericho oder den Bienenwaben gleichenden Zellen von Çatal Hüyük. Das war die Zeit der Indogermanen, der Nomaden und Höhlenmenschen. Zivilisation während der Eiszeit, von ihr ausgelöscht oder von den Überschwemmungen, die auf sie folgten? Das ist doch lächerlich.
     
    28. März 1921. Hobbsbaum und ich haben die ganze letzte Nacht hindurch miteinander geredet. Wir haben getrunken und gelacht und einen Fund gefeiert, der die ganze Mühe wert wäre, selbst wenn wir auf der Stelle sterben müssten. Aratta haben wir noch nicht entdeckt; und das werden wir wohl auch nicht mehr. Aber eigentlich haben wir auch gar nicht nach Aratta gesucht, ganz gleich, was Hobbsbaum sagt. Seine Augen funkeln verschmitzt, sogar wenn er darauf beharrt, dass die Tafeln sich doch bestimmt auf die Stadt beziehen. Wovon sonst sollte auf ihnen die Rede sein? Welche andere große Stadt hoch im Norden konnte den Sumerern sonst noch bekannt gewesen sein? Manchmal habe ich den Eindruck, dass er vage Andeutungen macht, Spuren legt, weil er mich zu einer logischen Schlussfolgerung führen will, die er längst gezogen hat, nicht willens, sie selbst in Worte zu fassen, denn damit würde er eingestehen, dass er verrückt ist. Aber ich bin inzwischen davon überzeugt, dass wir nach etwas anderem suchen, nach etwas Älterem. Ich bin deshalb so sicher — weil wir es gefunden haben.
     
    Die Höhlenwände sind über und über mit Keilschriftzeichen bedeckt, die laut Hobbsbaum turanischen Ursprungs sind. Das sind keine sumerischen Schriftzeichen, es sind nicht einmal arattanische aus derselben Zeit, sondern es handelt sich um einen veritablen Hort von Zeichen, manche in derselben Sprache wie die Tafel, andere offenbar noch älter. Angesichts dieser Höhlenwände könnte man die gesamte Entwicklung der Schrift im Laufe der Zeit nachvollziehen — die Stilisierung von Piktogrammen erst zu Symbolen und dann zu der eine Silbe darstellenden Keilschrift. Obschon ›Runenschrift‹ vielleicht ein passenderer Begriff wäre, fehlt ihnen doch die charakteristische Keilform von Zeichen, die mit einem Schilfrohr in weichen Ton gedrückt werden. Hobbsbaum ist außer sich und bedeckt ein Blatt nach dem anderen mit Notizen. Ich muss zugeben, dass ich vor lauter Fassungslosigkeit nur noch dasitze und die Höhlenwände anstarre. Allmächtiger, möglicherweise haben wir die älteste geschriebene Sprache der Welt entdeckt — und sie ist in Stein gemeißelt!
    Pechorin blickt nur finster drein und erklärt, sein Volk habe natürlich schon vor allen anderen schreiben können. Der Kerl ist so arrogant wie ein Hunne!
     
     
    Hobbsbaums Aufzeichnungen
     
    Hobbsbaums Aufzeichnungen bewahre ich getrennt von den anderen auf. Sie liegen in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch, in einer dieser unscheinbaren braunen Mappen verborgen, die in Aktenschränken eingehängt werden. Die Fotokopien und Übersetzungen habe ich behalten, die Scans auf meinem Laptop dagegen habe ich gelöscht. Ich weiß, dass sie zu dieser Geschichte gehören, aber ich kann mich nicht dazu aufraffen, sie noch einmal anzuschauen, denn dann muss ich immer an einen guten Freund denken, den sie zu seiner eigenen Sicherheit eingesperrt haben.
    Auf den Boden lege ich also so etwas wie einen Platzhalter.
     
    E-Mail an [email protected], 04/10/99, 14:45.
    Jack. Die Sachen, die ich mir ansehen sollte, sind bei mir völlig entstellt angekommen. Kannst Du sie mir noch einmal schicken? Klingt faszinierend. Auch wenn es wie eine Mischung aus römischem und kyrillischem Alphabet aussieht, ist es wahrscheinlicher, dass Dein Großvater oder der Professor diese Symbole nur verwendet

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