Vellum: Roman (German Edition)
ein junger Mann erhielt, nachdem er sich auf die Suche nach seinen Wurzeln gemacht hatte. Ich hatte nur wissen wollen, was da in meinem Blut brannte, als ich mit fünf auf dem Schoß meiner Großmutter saß und ihr zuhörte, wenn sie von dem einzigen Mann erzählte, den sie je geliebt hatte, von diesem Helden der Somme, dessen Züge sie in meinem Gesicht wiedererkannte. O ja, sagte sie oft in ihrem singenden Tonfall, du hast seine Augen, himmelblau und verträumt, und sein feines blondes Haar.
Lieber Herr Carter, steht da, ich muss Sie leider enttäuschen, aber Sie irren sich. Zwar habe ich mich zu der Zeit, auf die Sie sich beziehen, tatsächlich im südlichen Kaukasus aufgehalten. Aber ich kann mich nicht erinnern, Ihrem Großvater vor oder nach dem Krieg begegnet zu sein. Natürlich waren das wirre Jahre, und viele Dinge gingen durcheinander. Vielleicht haben sich unsere Wege tatsächlich gekreuzt — ausschließen kann ich das nicht. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich ihn nicht auf seiner Expedition begleitet habe. Vielleicht war das ein anderer Josef Pechorin? Ich bedaure, dass ich Ihnen keinen weiteren Aufschluss über diesen Abschnitt in der Geschichte Ihrer Familie geben kann, doch ich kann Ihnen mit Sicherheit sagen, dass ich nicht in Aratta war.
Konnte ich Josef Pechorin Glauben schenken? Warum schreibt er ›vor oder nach dem Krieg‹, wenn die Hobbsbaum-Carter-Expedition doch 1921 stattgefunden hat? Bezieht er sich vielleicht auf einen völlig anderen Krieg? Nein, ich glaubte ihm nicht. Ich war sicher, dass er etwas verbarg, also suchte ich weiter.
Ich weiß bis heute nicht, wer mir das Päckchen mit den Tagebüchern und Notizen geschickt hat, mit den Abschriften und Übersetzungen, manche auf Englisch, ein oder zwei auf Russisch, viele in einer Sprache, die, nun ja, keiner gleicht, die mir jemals untergekommen ist. Aber so habe ich von der zweiten Expedition erfahren.
Die zweite Expedition
2. September 1942. Ich habe erfahren, dass Samuel Hobbsbaum verhaftet wurde. Strang, der junge SS-Offizier, hat mir von dem Überfall auf das Warschauer Ghetto erzählt, von den Hunden, den Erschießungen, der beiläufigen — nein, der absichtlichen — Brutalität. Es sei nur eine Frage der Zeit, sagte er, bis die Arbeitslager die ›Judenfrage‹ geklärt hätten. Seine Worte und sein Tonfall jagten mir Schauer über den Rücken, aber seine Vorgehensweise lässt mich seltsam kalt. Mich plagen andere Ängste. Und mein Flachmann spendet mir Trost. Das gleichförmige Klappern und Rattern dieses Güterzugs bereitet mir Übelkeit; während ich dies schreibe, zittert mir die Hand. Aber das hat nichts zu bedeuten. Strangs Drohungen haben nichts zu bedeuten. Mich schreckt mehr die Vorstellung, wieder nüchtern zu werden.
Natürlich haben sie mir meine Flasche weggenommen und gewartet, bis die Entzugserscheinungen einsetzten, bevor sie mit dem Verhör begannen. Ein Stenograph schreibt völlig unbeteiligt alles mit, was ich sage. Strang steht neben mir oder am Tisch und blättert die Unterlagen durch, Pechorin neben ihm. ›Alle Lücken müssen geschlossen werden‹, sagt der Hunne. ›Wir wollen alles wissen.‹ Ich habe Pechorin angeschaut, und er erwiderte meinen Blick ohne zu blinzeln — gefühllos, tot. Schreiben Sie es auf, sagte er. Sie wollen, dass Sie es aufschreiben. Ich glaube, in diesem Moment wurde ich ohnmächtig.
An einem Ende des schaukelnden Waggons ist ein Holztisch festgeschraubt. Sie haben mir sogar einen Stuhl gegeben. Vor einer Weile ist Strang hereingekommen und hat einen Papierstapel auf den Tisch gelegt — meine alten Tagebücher, Aufzeichnungen von Samuel und anderen. Alles steht im Zusammenhang mit der Expedition ’21. Über diese Dinge kann ich weder nachdenken noch sprechen. Was wollen sie von mir?
Ich habe Strang gefragt, aber er sagt mir nichts. Ich habe versucht, mich an die letzten paar Tag zu erinnern, wo wir uns da aufhielten, aber nachdem ich zwanzig Jahre versucht habe, das alles zu vergessen ... War ich letzte Woche in der Türkei oder war das letztes Jahr? Oder erst gestern? Der stinkende Laderaum eines Fischerboots — der Geruch haftet noch immer an mir, ebenso wie der Gestank von Schnaps. Ich kann mich an Stimmen erinnern, mit kehligem Akzent. Russen? Pechorin! Verfluchter Schweinehund! Ich sehe Pechorin über mir stehen, ebenso seelenlos wie damals, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Er hat etwas zu mir gesagt.
O Gott. Wir gehen
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