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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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haben, um Lautwerte abzubilden. Sind auf den Vokalen diakritische Zeichen? Wenn ja, würde ich sagen, dass du es ganz eindeutig mit irgendeiner anderen Sprache zu tun hast, die in einem frühen ›phonetischen‹ Alphabet niedergeschrieben wurde. Vielleicht ein kaukasischer Dialekt oder dergleichen? Ich würde mir das wirklich gerne genauer anschauen. Ich habe es meinem Doktorvater gegenüber erwähnt, und er hat gesagt, Hobbsbaum sei auf seinem Gebiet so etwas wie ein Pionier gewesen. Er vermutet, dass er weit größere Anerkennung gefunden hätte, wenn die Nazis nicht gewesen wären.
     
    Nachdem ich das erhalten hatte, fing ich an, etwas gründlicher zu recherchieren. Ich meine, ich wusste nicht einmal, was ›phonetisch‹ bedeutet, bevor ich versucht habe, dieses Puzzle zusammenzusetzen. Inzwischen habe ich gelernt, dass unsere gewohnten Alphabete  – das römische Alphabet, das kyrillische, das griechische – den Lauten, die wir von uns geben, nur bedingt entsprechen. Der Buchstabe ›C‹ kann ein ›k‹-Laut oder ein ›s‹-Laut sein, oder ein ›ch‹ oder sogar ein ›ts‹, je nachdem, woher man kommt. Für manche Laute wie ›sh‹ oder ›th‹ gibt es im römischen Alphabet keinen entsprechenden Buchstaben. Aber die Leute, die sich mit diesen Lauten beschäftigen, mit diesen ›Phonemen‹, und damit, wie sie gebildet werden, können sie genau klassifizieren, und sie verwenden ein künstliches Alphabet, um sie abzubilden. Dafür nehmen sie Buchstaben von überall her – ein griechisches ›Theta‹ oder einen nordischen ›Dorn‹. Sie können die Art und Weise darstellen, wie ein Laut ausgesprochen wird: ein gehauchtes ›h‹ bei der Aspiration, nasal oder in der Glottis zurückgehalten. Es fehlen nur die Tonhöhe und die Betonung bei der Satzmelodie.
     
    Hobbsbaums Aufzeichnungen sind in genau so einem zusammengeschusterten Alphabet geschrieben. Aber neben den Schrägstrichen und Umlautzeichen über diesem oder jenem Buchstaben zieht sich über die einzelnen Zeichen eine Folge von Häkchen und Schlangenlinien, und diese heben und senken sich wie eine Stimme, die eine Geschichte erzählt. Die Tonhöhe und die Betonung bei der Satzmelodie. Eine Pause, um etwas hervorzuheben ... ein Flüstern.
    Fast habe ich den Eindruck, als hätte er keine geschriebene Sprache aufgezeichnet, sondern eine gesprochene, als hätte er wie ein Anthropologe einem alten Mann gelauscht, der am Lagerfeuer eine Geschichte erzählt – die Schatten tanzen, er macht sich unentwegt Notizen und versucht verzweifelt mitzukommen, und dabei verwendet er sämtliche Zeichen und Kringel, die ihm angemessen erscheinen, um die mündliche Überlieferung in ihrer ganzen Komplexität so genau wie möglich abzubilden.
    Und dann sind da noch die Skizzen, die er von den Inschriften der Alten angefertigt hat, auf die jene kleine, in Vergessenheit geratene Expedition im Jahr 1921 gestoßen war. Ich frage mich, ob er dasselbe empfand wie ich, als er sie betrachtete.
    Angst.
     
     
    Die Herrenrasse
     
    12. September 1942. 10 km südlich von Tyrnyauz. Heute hat Strang der Finger am Abzug gejuckt. Er hat mir den Lauf seiner Luger gegen die Schläfe gedrückt und mich auf Deutsch beschimpft — Schweinehund, Scheißer und dergleichen mehr. Auf mich wirkt er eher wie ein Gelehrter als wie ein Soldat, und ich weiß, dass er sich in der Uniform ebenso unwohl fühlt wie mit seiner bizarren Hypothese. Strang steht unter großem Druck und bemüht sich, den starken Mann zu markieren. Dabei ist er ein Schwächling, der sich in seinen Allmachtsphantasien verstrickt hat. Also habe ich ihn gereizt und er hat mir den Lauf seiner Waffe gegen den Kopf gedrückt. Pechorin hat ihn, so unergründlich wie immer, daran erinnert, dass nur ich sie an ihren Bestimmungsort führen könnte. Er sprach leise und bestimmt, in einem tödlich ruhigen Tonfall. Er erinnert sich an alles, dessen bin ich mir inzwischen sicher. Der Scheißkerl.
     
    »Sie glauben wirklich, dass wir die große arische Stadt gefunden haben, in der alle Zivilisation ihren Ursprung hat?«
    »Ich weiß, dass Sie eine Expedition organisiert haben, nach deren Durchführung der Professor kein einziges Wort mehr veröffentlicht hat. Und Sie waren wie vom Erdboden verschwunden. Ich glaube, dass Sie beide die Stadt entdeckt haben. Und dann haben Sie Ihre Forschungen abgebrochen, Ihre Spuren verwischt und zwanzig Jahre lang abgestritten, irgendetwas darüber zu wissen. Warum? Weil es nicht zu Ihren

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