Vellum: Roman (German Edition)
Zentralkaukasus erreichen. Eskortiert werden wir von ausgewählten SS-Leuten der Division ›Wiking‹, einer Einheit von zwölf Mann, die dem Befehl von Hauptmann Strang unterstehen. In ihren gestohlenen NKWD-Uniformen fühlen sie sich sichtlich unwohl — diesen Schaftstiefel-Dandys sind sie vermutlich nicht stilvoll genug.
Der ganzen Armee scheint es an Kraftstoff und Munition zu mangeln. Strang behauptet, dass sich Himmler mehr für die geheimen esoterischen Seiten der Mission interessiert als für die Eroberung der Ölfelder. Ich habe früher schon gehört, dass der innerste Kreis der Nazis merkwürdigen Vorstellungen anhängt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Hitler so große Hoffnungen auf eine einzige unbedeutende Unternehmung setzt, selbst wenn es uns gelingen sollte, die verlorene Stadt der arischen Stammväter zu finden. Natürlich wäre es für sie der bedeutendste Beweis ihrer Überlegenheit. Aber nicht einmal die Nazis können so verrückt sein, auf ein bloßes Symbol zu vertrauen; sicher versucht Strang, die Unfähigkeit seiner Befehlshaber zu vertuschen.
Es sei denn, Pechorin hat ihnen alles verraten. Mein Gott — diese Worte, diese Sprache aus Hitlers Mund!
Ich betrachte den sauberen Ausdruck auf einer hellen weißen Seite, der sich so sehr von den anderen zerfledderten Fetzen unterscheidet. Times New Roman. Zwölf Punkt. Eine Übersetzung aus dem Deutschen, die ein Freund von mir angefertigt hat, ein Sprachwissenschaftler, der ... den ich nicht in diese Sache hätte hineinziehen sollen. Wir haben uns über das alles lustig gemacht, über meine durchgeknallten Verschwörungstheorien und den Bestseller, den ich schreiben würde. Nazis und uralte Artefakte. Du glaubst doch nicht an diesen ganzen Kram, sagte er immer. Oder doch?
Ich lege die Blätter neben die Tagebucheintragungen meines Großvaters.
Alles verläuft nach Plan, schreibt SS-Sturmbannführer Strang. Die Lastwagen sind beladen und die Männer bereit. Alles brave, kräftige Söhne des Vaterlands. Oberführer, ich glaube, dass wir nicht nur Aratta finden werden, sowie eindeutige Beweise dafür, dass die Sumerer ihre Weisheit und Gelehrtheit der großen arischen Rasse gestohlen haben — wir werden den Russen die Schätze, von denen Pechorin erzählt, vor der Nase wegschnappen. Zugegeben, er spricht nur in Andeutungen von ihnen. Die Schicksalstafeln. Das Totenbuch. Wenn er davon redet, werden seine Augen ganz leer. Aber er ist eben ein Slawe. Die Macht der Alten ist ihm nicht gegeben. Sie ist unser, Oberführer, und ich werde sie nach Deutschland zurückbringen, wohin sie gehört.
Sie haben mich einmal gefragt, ob ich Pechorin vertraue. Seine derzeitige Lage erlaubt ihm nicht, uns zu belügen. Vielmehr bemüht er sich, alles zu tun, was wir von ihm verlangen. Er behauptet, er habe die Tafeln inzwischen fast ganz entziffert und es bestünden keine Zweifel, dass es sich um eine arische Sprache handelt. Der Engländer, Carter, vertritt immer noch die Meinung, es sei die Bastardsprache eines obskuren Zweiges der ›turanischen‹ Sprachfamilie. Als könnten die gelbhäutigen Pygmäen Asiens die Stammväter einer solch großartigen Kultur sein! Der Kerl ist wahnsinnig — vermutlich hat er zu viel türkischen Kif konsumiert. Manchmal glaube ich, es wäre besser gewesen, wir hätten ihn in dem stinkenden Loch gelassen, aus dem wir ihn gezerrt haben. Wenn wir ihn nicht brauchten, damit er uns nach Aratta führt, hätte ich ihn längst erschießen lassen.
Die Zeit der Nomaden
23. März 1921. Wenn es nicht schneit, regnet es. Wenn es nicht regnet, schneit es. Je weiter wir das Terektal hinter uns lassen und nach Nordossetien vordringen, desto mehr weicht das Geröll auf den allmählich ansteigenden Hängen Eis und blankem Fels. Wir kommen nur langsam voran, und ich bereue bereits, mich an dieser verfluchten Expedition beteiligt zu haben. Die Tafel — ach ja, endlich habe ich die Tafel zu Gesicht bekommen — die Tafel weist eine atemberaubende Vielzahl interessanter Einzelheiten auf, das ist richtig. Aber ich war, gelinde gesagt, schockiert, als Hobbsbaum mir erzählte, wie er sie übersetzt hat.
Seine Interpretation als ›frei‹ zu bezeichnen, wäre ausgesprochen wohlwollend. Er behauptet doch tatsächlich, dass wir die eigentliche Ursprache des Turanischen vor uns haben, den Vorläufer des Arattanischen wie des Sumerischen. Mir ist klar geworden, dass er im Bestreben, seine Theorien zu beweisen,
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