Vellum: Roman (German Edition)
Auszeichnungen schwafelte, von Tragödien und Medaillen. Seamus kann sich noch an jede einzelne Nacht erinnern, in der ihn die Erscheinungen, die Gesichter und Stimmen heimsuchten, als er immer wieder im Dunkeln aufwachte und MacChuill mit seiner zertrümmerten Augenhöhle dastehen sah, genau so, wie er ihn auf dem Schlachtfeld hatte liegen sehen — ihn und all die anderen, zwischen den Kratern und den zerbombten Baumstümpfen, während Seamus im Stacheldraht der Deutschen hing und — Nein. Denk nicht daran.
»Ich mein ... vielleicht sollten Sie mal drüber nachdenken, warum Sie hier gelandet sind. ’Ne andere Einstellung wäre vielleicht keine schlechte Idee, denn unter den Fürsten gibt es ’nen neuen großen Mann, und wenn Sie den Herzögen weiterhin so ruppig kommen, dann hören die Sie irgendwann, auch wenn sie ganz weit weg auf ihrem Thron hocken — vielleicht nicht heute, aber bald, und dann, Chef, geht der Ärger erst richtig los. Zugegeben, das Leben ist nicht fair und Sie haben wirklich ’ne Menge Pech gehabt, aber wenn sich das ändern soll, sollten Sie etwas weniger zornig sein.«
Seamus versucht aufzustehen, er will weg von diesem Kerl. Der Akzent stimmt, die Wortwahl stimmt, aber mit dem Redefluss stimmt etwas nicht, selbst wenn man in Betracht zieht, dass dieses Ding nicht von dieser Welt ist.
»Ich weiß, ich weiß, bestimmt kling ich wie ein alter Sack, wenn ich das sage. Aber wissen Sie, Chef, wenn man tot ist, sieht man die Welt plötzlich mit ganz andren Augen.«
Seamus versucht aufzustehen, aber seine Beine wollen ihn nicht tragen; selbst wenn er sich mit einer Hand auf der Querstange am Kopfende seines Bettes aufstützen und hochziehen will, spürt er nur das kalte Metall in seiner Handfläche. Er bekommt Herzflattern und sein Atem geht schwer. Verdammt, er ist einfach zu schwach.
»Chef«, sagt MacChuill, »Sie sind kein Mensch, den ich als sanftmütig und zurückhaltend bezeichnen würd. Sie laufen nicht jeder Karotte nach, die Ihnen jemand vor die Nase hält. Aber hören Sie ... Sie sind zu ungestüm, Sie reden zu unüberlegt, und jetzt zahlen Sie dafür. Sie sollten sich nicht gegen die Arschlöcher wehren, wenn Sie nicht noch mehr leiden wollen. Sie wissen, dass ein gestrenger und rücksichtsloser Tyrann an der Macht ist.«
Er legt Seamus die Hand auf die Schulter, und sein Mitgefühl wiegt schwer.
»Ich geh jetzt. Ich muss mal sehen, ob ich Sie von Ihrem Leid erlösen kann. Aber Sie dürfen nicht so laut und so unhöflich reden. Bei all Ihrer Klugheit, Chef, sollten Sie wissen, dass Sie für Ihre stolzen Worte bestraft werden. Sir, damit ist niemand geholfen.«
Der unbekannte Soldat
MacChuill tritt aus Finnans Albtraum heraus, um einen Moment zu verschnaufen – es ist harte Arbeit, für jemand anderen das Gespenst zu spielen. Dabei waren das nur ein paar Minuten, und schon hat er die Orientierung verloren. Für einen Moment hört er sogar, wie seine irische Mutter ihn ruft, während er auf der Straße spielt – Donald O’Sheen MacChuill, du kommst jetzt sofort nach Hause . Aber das ist nicht er, und er war es auch nie; es ist eine Montage aus ihm – Donald MacChuill – und einem O’Sheen, der in Finnans Zug gedient hat. MacChuill war überhaupt noch nie in Dublin – soweit er sich erinnert. Aber an allzu viel kann er sich sowieso nicht erinnern.
Er haucht sich in die Handflächen und reibt sie aneinander, um sie zu wärmen, aber es ist nicht nur das Schlachthaus, das kalt ist, denkt er. Nachdenklich betrachtet er den Mann, der mit Hühnerdraht und Ketten an den Stuhl gefesselt ist und der weiß, dass er kein Unrecht getan hat. Verdammt, dafür hat MacChuill sich nicht bei den Engeln verpflichtet. Zwar macht er dem Mann in gewisser Hinsicht etwas vor, aber es gibt auch einen Teil von ihm, der keine Scheißrolle spielt ... er empfindet durchaus Mitgefühl.
MacChuill blickt über die Schulter zu der mit einem Plastikvorhang versehenen Tür hinüber. Dort steht Henderson und schaut sich alles mit einem grausamen Lächeln an. MacChuill sieht sich um. Überall hängen die Kadaver geschlachteter Rinder – rotes Fleisch, weißes Fleisch, gefrorenes Fett, gefrorene Knochen.
Nein, dafür hat er sich ganz eindeutig nicht verpflichten lassen. Als sie ihn fanden, lebte er verwildert im Dschungel Burmas und hatte sein Gedächtnis verloren. Nach all den Jahrzehnten konnte er ihnen nicht mehr sagen, wie es ihn hierher verschlagen hatte, wer er
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