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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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könnte das jetzt sonst sein, wenn nicht einer dieser Scheißträume, wie sie ihn schon früher immer heimgesucht haben? Herrgott, hoffentlich fängt er jetzt nicht wieder mit dem ganzen Quatsch an, mit diesem verrückten Gerede, wegen dem er seinen Abschied nehmen musste — wie hat Reynard es genannt? Glossolalie? Wohl eher Glossoplemblemalie.
    »Herrgott«, sagt er. »Was denn nun schon wieder?«
    »Ach, jetzt aber. Ist das ’ne Art, mit ’nem alten Kameraden zu reden?«, mault MacChuill. »Ich mein, mit Verlaub, ich hab schließlich ’nen weiten Weg auf mich genommen, um Sie zu besuchen, auf diesem flinkflügeligen Vogel dort, den ich nur mit meinem Willen gelenkt hab.«
    Er deutet auf die Krähe, die auf dem Fenstersims herumstolziert und ihn beobachtet. Ihre Augen funkeln wie goldenes Sonnenlicht, als lodere ein Feuer in ihnen. Seamus zittert, aber nicht wegen der Kälte, obwohl er splitterfasernackt ist. Hätte er doch nur eine Zigarette! Aber die gibt es hier nicht, nicht einmal in Einzelhaft. Er fragt sich, ob Geisterzigaretten auch ein wenig wirken, denn dann könnte er MacChuill nach einer fragen. Der hatte immer eine übrig — wie ein verdammter Schlot hat der gequalmt. Wie ein stinkender Schornstein, sagte er immer. Aber taten sie das nicht alle?
     
    »Du bist wohl gekommen, um dich an meinem Leid zu weiden, was?«, sagt Seamus. »Schaust einfach mal vorbei, um zu sehen, wie’s mir so geht. Und um mir dein Beileid auszusprechen. Das ist eine ganz schön lange Reise, mein Junge — den weiten Weg den Fluss hinunter, der deine Seele davongetragen hat, den ganzen weiten Weg von dem Scheißloch, das sie dir gegraben haben, in der verdammten eisernen Mutter Erde. Ich meine, ich sag dir das ja nur ungern, aber scheiße, du bist tot und begraben.«
    Unvermittelt wird ihm schwindlig. Wenn er doch nur in Frieden leben könnte, ohne Dinge zu sehen, die es gar nicht gab.
    »Mein Mitgefühl hat mir gesagt, ich soll hierherkommen, Chef, also hab ich mich aufgemacht. Aber selbst wenn wir keine Brüder wär’n — es gibt niemand, vor dem ich mehr Respekt hätt, als vor Ihnen. Widersprechen Sie mir nicht! Sie müssen mir nicht irgendwelchen Scheiß erzählen. Sie wissen ganz genau, das stimmt, was ich sage. Wenn’s ums Schönreden ging, war ich noch nie besonders gut.«
    Er stapft um das Bett herum und setzt sich auf den Rand der Matratze. Das alles ist so absurd, dass Seamus fast lachen muss. Und fast weinen.
    »Wie’s aussieht, hab ich den Eindruck, Sie könnten etwas Hilfe brauchen«, sagt der Geist. »Soll nur niemand behaupten, es gäbe einen bess’ren Freund als den alten MacChuill.«
     
     
    Erscheinungen, Gesichter, Stimmen
     
    Ach Herrgott, wie ich allein schon aussehen muss, denkt Seamus, ganz krank und krumm.
    »Ein schöner Freund war ich dir, mein Junge«, sagt er. »Wohl eher ein Freund der Herzöge, die mit meiner Hilfe ihr Imperium errichtet haben, auf den zertrümmerten Knochen der ...«
    Seamus betrachtet MacChuills Gesicht im Profil — die linke, gute Seite. Er muss an den Jungen denken, der aus einer Stadt an der schottischen Westküste stammt, wo jeder im Steinbruch arbeitet. Als er zwölf war, wanderte seine Familie nach Irland aus, mitten nach Dublin hinein, weil seine Mutter Heimweh hatte und sein Vater das schwarze Schaf der Familie war. Alle seine Brüder wollten, dass er der Gilde und der Orange Lodge beitrat, aber darum scherte er sich einen Dreck. Anscheinend hatte MacChuill den Dickkopf seines alten Herrn geerbt und den schroffen Akzent sein Leben lang beibehalten, Widerborst, der er ist. Als Seamus ihm das erste Mal begegnete, verstand er kein Wort von dem, was der Junge sagte. Und Herrgott, wenn er sich erst ein paar Guiness hinter die Binde gegossen hatte, schien es die Hälfte aller Buchstaben des Alphabets nicht mehr zu geben.
    »Ich weiß«, sagte MacChuill, »ich weiß. Sie haben mehr auf dem Kasten als ich, Chef, aber ... ich hab mir einfach gedacht, ’nen guten Rat könnten Sie trotzdem gebrauchen.«
     
    Er wendet den Kopf und schaut Seamus direkt an, und in seinem Blick liegt ein zaghafter Ernst. MacChuill ist der älteste von Seamus’ Geistern, der erste, der ihm in der Finsternis des Unterstandes einen Besuch abstattete, nachdem er aufgewacht war und sie ihm erzählten, was er getan hatte; nachdem er Stunde um Stunde zitternd dagesessen hatte, den Blick starr auf die Leichen gerichtet, die sich in den Schützengräben türmten, während der Hauptmann von

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