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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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nur ein Ziel vor Augen haben: weg von hier! Hinaus aus der Wirklichkeit. Fort von den Unkin. Und den Bitläusen. Einfach nur weg!
    Aber so weit sie auch fliehen, ganz entkommen können sie wohl nicht. Das ist das Problem mit dem Vellum; wenn die Zeit drei Dimensionen hat, kann man jahrzehntelang unterwegs sein und findet sich doch genau an dem Tag wieder, an dem man losgefahren ist, oder jedenfalls an einem ähnlichen.
    »Komm«, sagt sie.
     
    Sie schlägt die Kapuze nach hinten, und Don folgt ihrem Beispiel. Die Ortsansässigen wenden sich wieder ihrem Bier und ihren Gesprächen zu, ganz offensichtlich zufrieden damit, dass die Neuankömmlinge in die Rolle der geheimnisvollen Fremden geschlüpft sind. Hin und wieder gleitet ein Blick über sie hinweg, aber Phreedom weiß, dass das zum Spiel gehört, dass Rituale genau so funktionieren. Dieses Szenario haben sie auf ihrer Reise in das Vellum tausendmal durchgespielt. Fast automatisch sucht sie den Schankraum nach dem Muskelprotz ab, der sie anbaggern wird, sobald sie an der Bar etwas bestellt; er wird einen Streit vom Zaun brechen und eins auf die Mütze bekommen. Den örtlichen Großkopfete hat sie bald entdeckt, in einer Nische ganz hinten, mit goldenem Schmuck behängt und in einem makellosen Anzug, von seinen Kumpanen umgeben; ob lateinamerikanischer Drogenbaron, Viehzüchter aus dem Wilden Westen, Ghettozuhälter oder Mafioso – einen Ganoven gibt es immer, der bis über die Hutschnur in einer Geschichte steckt und nur auf einen Katalysator wartet, damit sie ihren Lauf nimmt. Sie und Don schließen manchmal Wetten ab, wie lange es dauert, bis der Großkopfete versucht, sie in seine Dienste zu nehmen oder sie aus der Stadt zu verjagen.
    »Fünfzehn Minuten«, sagt Don. »Was meinst du?«
    »Eine«, sagt Phreedom.
     
    Don deutet auf einen freien Tisch – das grob gehobelte Holz mit Bänken statt Stühlen hätte einem Rastplatz besser angestanden als einer Taverne; andererseits wirkt der ganze Schuppen zusammengestückelt, wie viele andere Läden auch, denen sie unterwegs einen Besuch abgestattet haben. Die Nischen weiter hinten sind aus Resopal, die Stühle mit Kunstleder gepolstert wie in einer einfachen Eckkneipe. Die Bar ist ganz in Kupfer und Messing gehalten, auf Saloon getrimmt, aber es gibt auch Tische mit Wachstuchdecken, großkariert wie in manchen kleinen Cafés in Europa, mit leeren Weinflaschen als Kerzenständern oder mit Blumen. Der Mosaikboden ist mit Sägespänen bedeckt. Hinter der Bar brennen Neonröhren, an der Wand Gaslampen. In den Ecken hängen Fernsehgeräte von der Decke herab. Seitlich steht ein sonderbares Klavier auf einer Bühne – ein mechanischer Apparat irgendwo zwischen einem Flügel und einem elektrischen Klavier. Ein Zylinder dreht sich, während es eine mörderische Fassung von ›My Way‹ ausspuckt. Die Vergangenheit ist zur Zukunft geworden, denkt sie. Morgen wird cool, was gestern von gestern war.
    Sie nickt, und während sich Don auf der Bank niederlässt, schiebt sie ihr Regencape beiseite und greift nach ihrer Brieftasche.
    »Eine Minute?«, sagt Don.
    Sie grinst.
    »Pass genau auf.«
     
    Fünf Sekunden. Sie geht zur Bar, bestellt zwei Bier und schiebt sich neben den besoffenen Muskelprotz in seinem Jogginganzug, der sie ausgiebig mustert, von oben bis unten und von unten bis oben. Dann grinst er seine Freunde weiter hinten im Schankraum an, die Kumpels des Beutelschneiders. Acht, neun, zehn Sekunden. Mit einem lüsternen Blick wendet er sich ihr zu.
    »Hallo, Schätzchen –«
    Sie drischt ihm die Faust ins Gesicht und bricht ihm die Nase. Blut spritzt auf seinen Oberlippenbart und über sein weißes Hemd. Der Zerspalter wechselt blitzschnell die Hand und sie wirft sich herum wie Bruce Lee, knallt ihm den Schaft gegen die Schläfe und bleibt breitbeinig stehen, den Zerspalter erhoben und direkt auf die Nische gerichtet. Er taumelt nach hinten und bricht vor den Füßen seiner Kumpane zusammen. Sechzehn, siebzehn, achtzehn. Der Großkopfete betrachtet den Rotwein, der vom Tisch und ihm in den Schoß tropft. Das Glas ist umgefallen und rollt hin und her. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Sein Stuhl schrammt nach hinten, und seine Leibwächter stellen sich schützend vor ihn und greifen nach den Waffen. Sie lächelt, zuckt mit den Achseln, lässt den Zerspalter in die Vertikale gleiten und hebt die Hand, Handfläche nach außen. Sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig. Sie wendet sich von

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