Vellum: Roman (German Edition)
war. Er wusste nur noch seinen Namen, seinen Rang und seine Nummer. Als sie ihm sagten, er sei etwas Besonderes, etwas, das über die gewöhnliche Menschheit erhaben sei, von einem Krieg in dieses sonderbare, alterslose Ding verwandelt – in einen Unkin , sagten sie – als sie ihm sagten, dass sie ihn brauchten, war das eine solche Erleichterung, dass er anfangs nur lachte. Sie boten ihm ... klare Strukturen ... einen Lebenssinn ... die Gelegenheit, dem Wohl aller zu dienen. Mehr, als er je für möglich gehalten hatte, sagten sie. Und MacChuill, der unbekannte Soldat, der längst sein Regiment in einem Krieg verloren hatte, den er nicht einmal hätte benennen können, schluckte und weinte fast vor Stolz. Endlich war er wieder dort, wo er hingehörte, bei einer Armee – ein Soldat, der nicht mehr nur für ein erhabenes Imperium kämpfte, sondern für ... das erhabenste Imperium von allen.
Sie sagten ihm, im Himmel sei Krieg ausgebrochen. Deine Ewigkeit braucht dich.
Aber diese Welt, in die sie ihn zurückgeholt haben, ist eine andere, und auch der Krieg ist ein anderer. Ein Krieg um die Herzen und den Verstand jedes Menschen auf dem Planeten, sagen sie. Ein Krieg um die Seelen, sagen sie, der auf einem Schlachtfeld geführt wird, das sie ›das Vellum‹ nennen. Von Geschichte reden sie. Und von Mythologie. Jetzt gehe es nicht mehr nur um ferne Länder jenseits der Meere; dieser Krieg finde außerhalb der Wirklichkeit statt, in den Köpfen der Menschen. Der Himmel, erklären sie ihm in vertraulichem Ton, gleiche einer Insel, von den Großmächten auf dem Kontinent durch ein Meer der Träume getrennt. Dunkle Kontinente und uralte Mächte. Den metaphysischen Überbau versteht er nur bedingt, aber das macht nichts; er ist ein Geschöpf des britischen Imperiums, also weiß er genau, was sie meinen. Es geht nicht mehr gegen deutsche Militaristen oder indische Aufständische, auch nicht mehr gegen die Mau-Mau oder die Zulus oder irgendein anderes wildes und unzivilisiertes Volk. Aber noch immer ist es eine ... winzige Nation, die den primitiven und brutalen Heiden die Früchte der Aufklärung bringen will. Es geht noch immer gegen die fremden Teufel.
Das sagen sie zumindest.
Dieser Finnan, dieser Drückeberger und Renegat, den Henderson und er da aufgelesen haben, macht auf ihn allerdings nicht den Eindruck, als stelle er für den Konvent eine große Gefahr dar. Er hat sich kaum gewehrt, sondern nur wüst geflucht – sogar dann noch, als Henderson, das widerliche Arschloch, ihn mit Fäusten und Füßen bearbeitete. Und jetzt hat sich MacChuill eine Weile durch Finnans Träume bewegt, mit den Gesichtszügen eines armen toten Jungen namens O’Sheen versehen, mit einer gefälschten Geschichte irgendwo zwischen dem, was war, und dem, was hätte sein können, in dem Versuch, dem Gefangenen etwas näherzukommen – so lauten jedenfalls seine Befehle. Und das Problem ist, dass ihm das tatsächlich gelungen ist. MacChuill mustert den Mann, der da an den Stuhl gefesselt ist, die Brust von dem Haken weit aufgerissen. Der schwarze Staub kriecht ihm über die Haut, unter die Haut, und MacChuill empfindet ihm gegenüber genau die Verbundenheit, die er hatte vortäuschen sollen. Er möchte den Mann von seiner Folter erlösen, will ihm helfen. Bestimmt kann er darüber mit seinen Vorgesetzten reden –
»Ich mach dir keine Vorwürfe, mein Junge«, murmelt der Gefangene, wie auf eine ferne Erinnerung oder eine Halluzination hin. »Du hast alles mit mir geteilt, alles gewagt, mein Sohn. Jetzt ...«
Sein Kopf sinkt herab und mühsam hebt er ihn wieder.
»Geh meinetwegen kein Risiko ein. Mach dir keine Sorgen. Du kannst sie nicht überzeugen, so einfach geht das nicht. Kümmer dich um deinen eigenen Kram, sonst sitzt du bald selbst in der Tinte.«
MacChuill streckt die Hand nach der Schulter des Gefangenen aus, um in seine Träume zurückzukehren.
Wieder eine andere Erinnerung. Oder jedenfalls eine Rekonstruktion der Vergangenheit ...
Die Zeiten ändern sich
Seamus verteilt Zigaretten an die beiden Soldaten, nimmt sich selbst eine, zündet ein Streichholz an, hält es erst dem einen hin und dann dem anderen. Gedankenverloren bläst er es aus und zündet für sich dann ein weiteres an. Das ist ein alter Aberglaube aus dem Schützengraben — du zündest eine Zigarette an, und der deutsche Scharfschütze bekommt sie ins Visier, dann eine zweite und er zielt, eine dritte und Peng ist jemand tot.
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