Vellum: Roman (German Edition)
Elend ein Ende haben wird.
Sie spürt, wie eine Hand ihr über das Haar streicht, die sanfte Hand eines irischen Vagabunden, Seamus, zögerlich erst, als wüsste er nicht, ob ihm das zusteht. Er wischt ihr eine Träne aus dem Gesicht.
»Ach, Anna, es ist ja gut«, sagt Seamus. »Alles wird gut. So schlimm kann es doch gar nicht sein. Was soll da dieses Theater?«
Wie soll sie ihm das erklären, bei dem Zustand, in dem er sich befindet? Wie soll sie ihm erklären, in was für einem Zustand sie sich befindet? Er, der in dieser gottverlassenen Klapsmühle festsitzt und sie hier draußen zwischen Hölle und Fegefeuer, sie weiß weder ein noch aus und ist hin und her gerissen zwischen ihrer Liebe zu Finnan und dem, was sie aus Hass auf ihn Entsetzliches getan hat, als er ihr erzählte, wie ihr Bruder in Frankreich zu Tode gekommen ist. Vater, vergib mir, denkt sie. Seamus, vergib mir. Ich war wütend. Ach, Zorn und Trauer waren einfach zu viel, ich konnte es nicht mehr ertragen, und du hattest schließlich gesagt, du würdest auf Tom aufpassen, aber Tom war fort, und du hattest dich in deinem eigenen Kopf verirrt und ... er war da, Seamus. O Seamus, ich wollte dir wehtun. Ich wollte dich in meinen Armen halten. Deine blauen Augen waren es, die ich in den seinen gesehen habe, und dein Haar habe ich berührt, als ich es ihm aus der Stirn strich.
Sie ringt die Hände und spürt den Ring, der im Handschuh verborgen an ihrem Finger steckt. Wie kann sie ihm sagen, dass sie einen Mann heiratet, den sie nicht liebt, und nicht den Mann, der den Verstand wegen eines Versprechens verloren hat, das er ihr einst gab?
»Wo sind wir hier?«, fragt sie, »und was sind das für Leute?«
Sie zittert, wie die armen Unglücklichen, die in diesem schrecklichen Zimmer an den Tischen sitzen, diese Männer, denen ein Arm oder ein Bein fehlt, die blind sind oder um die es noch schlimmer bestellt ist. Sie hat gesehen, wie auch seine Hand zitterte, als er sie über den Tisch hinweg ausstreckte, um ihre Fingerspitzen zu berühren, genauso sanft wie damals zu Hause, als sie alle noch so jung und ungestüm waren und er ihr einen Besuch abstattete, geschniegelt und gebügelt in seiner besten Sonntagskleidung. Seine Hände sind rau, aber seine Berührung ist so sanft, dass sie sie durch den Ziegenlederhandschuh kaum spüren kann, aber sie spürt es am Pochen ihres Herzens.
Sie schaut ihn an, wie er breitbeinig auf dem Felsen sitzt, vor dem sie kauert, das schmutzig blonde Haar vom Wind gezaust. Hinter ihm, jenseits der Felsnase und des Moors, ragt das graue Gebäude von Inchgillan auf, so einsam wie er auch. Was hat er getan, dass sie ihm das antut? Was für ein trostloser Außenposten der menschlichen Gesellschaft ist das, an dem sie sich hier wiedergefunden haben?
Stockend und schluchzend beginnt sie zu erzählen.
Bitte hör mir zu, Seamus.
Seamus, vergib mir, denn ich habe gesündigt.
Eine entsetzliche Finsternis
Er bemüht sich, ihr zuzuhören, folgt mit den Augen ihrer Hand, die zu ihrem von Fliegen umschwirrten Kopf emporzuckt und durch die Luft fährt. Sie erzählt ihm von der warmherzigen Liebe des Herzogs für die junge Tochter des Enosch Messenger, aber ganz folgen kann er ihr nicht. Ihrem Vater war es zutiefst zuwider, dass sie sich mit Seamus traf, fällt er ihr ins Wort, was mussten sie sich nicht alles einfallen lassen, damit sie etwas Zeit miteinander verbringen konnten. Weißt du noch? Wie dein alter Herr immer von Anstand geredet hat.
»Warum musst du jetzt über meinen Vater sprechen?«, fragt sie. »Himmel, Seamus, mein armer, leidender Seamus, erklär mir das — du warst immer ehrlich zu mir: Sind wir nur auf der Welt, um zu leiden? Wer unter den Elenden, wer — o Herr — leidet so wie wir?
»Weil der Anstand es erfordert«, erklärt sie ihm. »Der Anstand.« Deswegen hat sie sich auch auf den weiten Weg zu ihm gemacht, vom Himmel selbst geschickt. Er fragt sie, warum, woran liegt es, warum, und sie erzählt ihm, dass sie Hals über Kopf abgereist sei, dass sie seither keinen Bissen mehr gegessen habe — und von der stürmischen Überfahrt von Dublin herüber, und wie sie alle unter den Plänen leiden, die die Menschen im Zorn schmieden, von gehässigen Gedanken wie von Insektenstichen in den Wahnsinn getrieben.
Er versteht ihre wirre Geschichte nicht, während sie weiter versucht, ihm etwas zu gestehen, aber sie verliert sich immer wieder in Nebensächlichkeiten, kommt nicht zur Sache.
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