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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Vielleicht ahnt er auch, worauf sie hinaus will, aber er will es einfach nicht wahrhaben. Er weiß nur — und mehr lässt er nicht an sich heran —, dass sich hinter ihrem weitschweifigen Geständnis ein schreckliches Geheimnis verbirgt, sie kann es nicht länger für sich behalten, aber sie kann es ihm auch nicht mitteilen.
     
    »Kommen wir in den Himmel oder in die Hölle, wenn wir tot sind?«, fragt sie ihn. »Was erwartet uns denn noch, nachdem wir in dieser Welt schon so sehr gelitten haben? Jesus vergibt uns bestimmt.«
    Sag es ihr, denkt Seamus, sag dem armen Mädchen, dass Gott im Himmel uns alle unsere Sünden vergibt, sogar wenn man zugelassen hat, dass der Bruder der Geliebten wegen Feigheit erschossen wurde — nicht wegen der Feigheit eines jungen Kerls, der im Schützengraben kauert, sondern wegen der Feigheit seines Freundes, seines Feldwebels, der einen Scheißbefehl befolgt hat. Sag ihr, dass auch das Verzeihung findet.
    Er kann es nicht.
    Seit er von der Front zurückgekehrt ist, um ihr die Nachricht vom Tod ihres Bruders zu überbringen, um ihr zu sagen, dass eine große Schande auf ihm lastet, auf Seamus und auf keinem anderen — seither ist eine entsetzliche Finsternis zwischen sie getreten. Er sieht es in ihren Augen, sie kann ihm nicht verzeihen, obwohl sie es will. Und sich selbst kann er auch nicht verzeihen, denn wenn er ihr in die Augen blickt, sieht er dasselbe Dunkelgrün und Braun wie in Thomas’ Augen.
    Aber was könnte das nur sein, was er ihr verzeihen soll?
     
    Er weiß noch, dass er vor die Tür des Hauses der Familie Messenger im wohlhabenden Vorort Rathgar in Dublin trat, wie er das zuvor schon oft getan hatte. Aber jetzt war alles anders. Er hatte Urlaub und wartete auf das Gutachten der Ärzte. Und zitterte wie Espenlaub. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er ihr sagen sollte und ob sie weinen oder ihn verfluchen würde oder beides. Sollte er ihr die ungeschminkte Wahrheit sagen, alles, was sie wissen wollte, in einfachen Worten, ohne Übertreibungen, was für ein tragischer Tod es gewesen sei, und auch ohne ein großes Geheimnis daraus zu machen? Schließlich hatte sie ein Recht darauf, es von jemandem zu erfahren, der dabei gewesen war. Sollte er ihr erzählen, dass sie dem Mann gegenüberstand, der den Jungs den Befehl gegeben hatte, anzulegen und zu schießen?
    Als sie zur Tür kam, wirkte sie so verloren, ihr Blick war so unstet. Da wurde ihm klar, dass sie etwas brauchen würde, an dem sie sich festhalten konnte, ein Versprechen, dass der Kummer irgendwann ein Ende haben würde. Aber war es besser, wenn sie nichts erfuhr — Himmel Herrgott — oder wenn sie alles wusste? Konnte er es vor ihr verbergen, bloß damit sie es zu einem späteren Zeitpunkt doch herausfand, um dann noch mehr zu leiden? Diese eine Sache konnte er ihr nicht vorenthalten, diese eine kleine Sache, diese schreckliche kleine Wahrheit, warum zum Teufel zögerte er es dann hinaus? Ich will ja, dachte er bei sich. Aber er konnte nicht anders, er zögerte, weil er wusste, wie sehr er sie damit verletzen würde.
    Aber wenn sie es doch will, dachte er, muss ich es ihr erzählen.
     
    Und so saßen sie im Salon, er hielt seinen Hut in Händen, und sie waren so weit voneinander entfernt, als ahnte sie bereits, wie sehr sein Gewissen in drückte — und nicht nur wegen eines gebrochenen Versprechens. Warum litt er so sehr?, fragte sie ihn. Was war das für ein schreckliches Verbrechen, für das er sich so furchtbar bestrafte? Und er konnte die Angst in ihrer Stimme hören, er könne ihr etwas sagen, das ihr das Herz bräche. (Genau wie die Angst, die er jetzt empfindet, dass sie ihm ebenfalls die Wahrheit sagen könnte, aber so schlimm kann es doch bestimmt nicht sein. Wie auch?) Er musste daran denken, wie er den Ärzten wieder und wieder seine Geschichte erzählt hatte.
    »Sieht so aus, als ob ich immer nur davon rede, was ich mitmachen musste«, hatte er gesagt. »Aber irgendwann muss Schluss damit sein.«
    »Seamus, sag mir, was dich um den Verstand gebracht hat«, sagte sie.
    Der Wille der Herzöge, dachte er, die Hände eines Schmieds. Er schüttelte den Kopf.
    Sie bat ihn, wenn er sie liebte, dann solle er ihr doch um alles in der Welt sagen, was geschehen sei. Er müsse sie nicht schonen, sie sei stark und würde es aushalten. Und er erwiderte, er könne es nicht, beim Allmächtigen, wie könne er ihr das erzählen? Es habe mit Thomas zu tun, sagte er und blickte in ihre grünen Augen.

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