Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
Vom Netzwerk:
spürt die Sonne warm im Gesicht. Das tut so gut! Das Rot und Orange und der goldene Glanz, der durch seine Augenlider dringt, scheint von verschwommenen Mustern durchzogen zu sein, kreisende Dinge, die sich beinahe zu erkennbaren Formen zusammenfügen – Spiralen, Mandalas –, aber dann wird er doch nicht klug daraus. Und genau so fühlt er sich auch. Als wäre er nur eines dieser winzigen Dinge, die sich in einem fort im Kreis bewegen und dabei zu einem Muster gehören, aus dem er einfach nicht schlau wird.
    Er öffnet die Augen und braucht eine Weile, bevor er die Punkte, die in einiger Entfernung am Himmel schweben, vom Sonnenlicht unterscheiden kann, das gebrochen und gefiltert an sein Auge dringt, bevor er die kreisenden Raubvögel erkennen kann. Sie sehen tatsächlich so aus, als folgten sie einer bestimmten Ordnung. Als drehten sie ihre Runden am Himmel nach einem durchdachten Plan, der ganze Schwarm, wie Soldaten entlang der Umzäunung eines Lagers irgendwo im Dschungel, grün und saftig wie im Bergland von Mexiko. Er muss an Männer in Uniformen denken, die dieselbe Farbe hatten wie sein Bambuskäfig und die Bambussplitter, die ihm unter die Fingernägel getrieben wurden. Planvoll.
    Seine Fingerspitzen sind noch immer taub, seit er die Seele des Iren berührt hat, und er reibt die Hände aneinander.
    Natürlich sehen die Vögel nur so aus, als verfolgten sie ein gemeinsames Ziel, jedenfalls hat ihm das einmal jemand gesagt. Dabei haben sie keine Ahnung, wohin sie unterwegs sind. Sie fliegen einfach hintereinander her, bleiben nahe genug beieinander und weit genug von einander entfernt, um sich wohlzufühlen. Das versteht man unter Schwarmverhalten, dieses – wie heißt das Wort? – emergente Verhalten, das geordnet wirkt, aber eigentlich eher Zufall ist. Jedenfalls hat ihm das einmal jemand gesagt. MacChuill hat noch immer Probleme, sich an diese neue Welt mit ihren neuen Ideen und neuen Kriegen anzupassen. An die neuen Feinde. Wenn die Dinge doch nur so einfach wären wie früher, als er ein Junge war. Wann immer das auch war.
    Das ist nicht dein Kampf , denkt er. Nicht wenn es ein Kampf ist, in dem er einen armen Schweinehund foltern muss, der niemandem etwas getan hat, außer jenem einem Mal, als er vor Schmerzen den Verstand verloren hatte. Nein. Das kann er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren. Unmöglich.
    Seamus Finnan, denkt er. Woher kenne ich bloß diesen Namen? Und irgendwo im hintersten Winkel seines Gehirns gräbt er eine Erinnerung an eine kleine Kneipe in Glasgow aus, an einen Folkmusiker, der in einer Ecke saß und ein Lied sang. Wie ging der Refrain nochmal?
    Das Leben ist hart und das Leben ist schwer. Der Tod kommt so schnell und das Blut fließt ins Meer. Am schwersten jedoch ist’s für die, die noch leben, den Sterbenden den letzten Abschied zu geben.
    MacChuill trifft eine Entscheidung.
    Er hat keine Ahnung, wohin er geht, aber wenn er sich auf diesem leeren Ladeplatz umsieht, weiß er, dass er verdammt nochmal von hier verschwinden wird, und zwar sofort. Vielleicht gibt es irgendwo einen ordentlichen Kampf für einen alten Soldaten wie ihn, einen Soldaten eines Imperiums, in dem die Sonne – so hieß es – nie unterging, aber hier und jetzt jedenfalls nicht.
    Don blickt ein letztes Mal zu den Bussarden hinauf und setzt schließlich zögernd einen Fuß vor den anderen.
     
     
    Ein Riese erwacht
     
    »Ein weiser Mann«, sagt Anna, »hat einmal in Gedanken die Gegebenheiten gegeneinander abgewogen und als Erster gesagt, dass es am besten sei, standesgemäß zu heiraten.«
    Sicher war das kein einfacher Arbeiter, denkt er verbittert, dessen Hände zu schmutzig waren, um diejenigen zu umwerben, die so sauber sind, so rein und reich, mit ihrer Scheißkinderstube, so verdammt makellos. Ich hoffe, du bist scheißglücklich mit deinem Scheißoffizier, wie immer das Arschloch auch heißen mag. Aber die Niederlage lastet wie ein eisernes Gewicht auf seinem Herzen, ein Anker, der ihn in den kalten Atlantik hinunterzieht, auf den er hinausstarrt. Das liegt auch daran, weil er weiß, dass sie nicht glücklich sein wird. Er kann am Zittern ihrer Stimme hören, wie sie versucht, sich mit den Worten ihres Vaters selbst zu überzeugen. Hat sie in dieser Sache denn überhaupt eine Wahl?
    Er rutscht von dem Felsen herunter und geht ein Stück über den Strand, bückt sich, um einen flachen Stein aufzuheben. Der hüpft über die graue Wasseroberfläche, einmal, zweimal, dreimal, dann ist er

Weitere Kostenlose Bücher