Vellum: Roman (German Edition)
verschwunden. Würde sie mit ihm davonlaufen?, fragt er sich. Ist sie deswegen hier? Nicht um ihn zu treten, ihn, der er bereits am Boden liegt, den armen verrückten Seamus Finnan, den sie in eine Klapse gesperrt haben, die sie als Veteranenkrankenhaus bezeichnen. Nicht um der fürchterlichen Grausamkeit willen, sondern in der Hoffnung, dass er sagt, was sie nicht zu sagen, vielleicht nicht einmal zu denken wagt. Schließlich will er nicht, dass sie unglücklich ist, mit dem falschen Mann in einer törichten Ehe gefangen, die halb aus Liebe, halb aus Hass geschlossen wurde.
Verzweifelt schweift ihr Blick hierhin und dorthin, von dem sich wiegenden Seegras zu seinem Gesicht und dann wieder zu ihren Händen zurück. Ihre wirren Worte branden über ihn hinweg, von Wehmut erfüllte Wellen, die gegen undurchlässigen Fels schlagen.
»Seamus, aber ich fühle mich elend deswegen. Wenn Gleichgestellte heiraten, gibt es keinen Grund, sich zu fürchten, nicht wahr? Aber wenn doch ...?«
»Ich weiß nur«, sagt Phreedom, »ich weiß nur, dass ich so weit wie möglich vom Konvent weg sein möchte. Aus den Augen, aus dem Sinn. Hoffentlich. Ich weiß es nicht. Verdammt, Finnan, ich weiß nicht, was dort draußen auf mich wartet. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich alledem einfach nicht entkommen kann – ihren Plänen, ihren Kriegen. Aber ... ich muss es versuchen.«
Er greift nach den Camels, die auf dem Nachtschränkchen liegen, stößt sie hinunter und flucht. Er lässt die Füße vom Bett gleiten, setzt sich auf und bückt sich, um das Päckchen aufzuheben. Zieht eine Zigarette heraus. Bricht ein Streichholz aus dem Heftchen, das im Aschenbecher liegt. Eine Flamme. Ein tiefer Atemzug. Phreedom streckt die Hand aus, und er will ihr gerade die Camel reichen, hält dann jedoch inne. Zieht eine Augenbraue hoch.
»Richtig«, sagt sie und streicht sich über den Bauch. »Scheiße, ich sollte es wohl eher sein lassen, was?«
Sie rutscht zu ihm hinüber. Draußen fährt ein Streifenwagen mit heulender Sirene vorbei, gefolgt von einem Krankenwagen. Einen Moment lang will ihm nicht einfallen, was ihn daran stört, doch dann wird ihm klar, dass keines dieser Geräusche hierher gehört. Das sind Sirenen aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt, nicht das langgezogene, an- und abschwellende Klagen aus dem Amerika des 21. Jahrhunderts, sondern das hektische Lalü-Lalü von vor Jahrzehnten, von der anderen Seite des Atlantik. Damals, als die Polizisten noch Schlagstöcke verwendeten und nicht Tränengas.
»Na ja«, sagt er und versucht, einigermaßen locker zu klingen. »Vielleicht musst du ja gar nicht ins Vellum gehen. Ich habe eher den Eindruck, dass es zu uns kommt.«
»Ich muss gehen«, sagt sie. »Komm mit mir. Du wärst ein guter Vater.«
Er lacht laut los. Das kann sie nicht ernst meinen.
Und so sitzen sie den größten Teil der Nacht einfach nur da, reden über Vergangenheit und Zukunft, über die Pläne des Konvents. Über die Pläne der Bitläuse können sie nur spekulieren. Ihre Wahrnehmung des Cant habe sich verändert, sagt sie. Früher glich er einem Lied, wie ein flüssiger Widerhall der ganzen Welt. Jetzt ist er zu krampfartigen Zuckungen in ihrem Bauch geworden, zu einem Wahnsinn, der ihren Verstand zu versengen droht, zu dem brennenden Schmerz von Pfeilen, denen Feuer nichts anhaben kann, zu Nadelstichen. Sie erzählt, wie heftig ihr das Herz in der Brust schlägt, dass sie immer wieder unruhig auf und ab geht, sich verängstigt umschaut, sich unablässig im Kreis dreht wie ein gefangenes Tier, jeder keuchende Atemzug halb Angst, halb Wut. Manchmal hat sie keine Kontrolle über das, was sie sagt – ein anderes Ich drängt sich in ihr Bewusstsein und verflucht die kleine weiße Schlampe, die ihrer Rolle als Herrin des Himmels einfach nicht gerecht wird. Dann steht sie vor dem Spiegel und beschimpft sich in altem Sumerisch.
»Wenn ich nicht bald von hier wegkomme ...«, sagt sie, ohne den Satz zu beenden.
Irgendwann, sagt er sich, wird sie wieder zu Verstand kommen, und mit sanfter Hand streichelt und liebkost er sie, ihre wundervolle, mit Sommersprossen übersäte Haut.
Am nächsten Morgen wacht er auf, und sie ist fort. Verkatert und hungrig stapft er durch den kalten New Yorker Schnee zurück in seine kleine Kirche um die Ecke.
»Er heißt nach dem Herzog, der ihn gezeugt hat«, sagt Finnan, »und ist weithin berühmt für seine Fertigkeiten mit dem Bogen.«
Inzwischen ist er fast
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