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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Vorhaut.
    »Gut.«
     
     
    Ach, die Träume
     
    Ich renne. Ich bin in der Stadt und renne, meine Schuhe knallen auf dem Asphalt und dem Pflaster und den Steinplatten wie Pistolenschüsse, ein lauter Widerhall zwischen den leeren Gebäuden aus Ziegelstein und Beton, Sand- und Kalkstein. In den Fensterscheiben sehe ich das Spiegelbild meines Verfolgers, der über mir von Dach zu Dach springt, aber ich kann nur eine blauweiße Gestalt erkennen, die im rotgoldenen Licht der Abendsonne flimmert — Flammensplitter, Herbstblätter. Die Dämmerung.
     
    Ich biege um eine Ecke und dort wartet er schon auf mich, finster und verkommen, in den Schatten einer Gasse, ein Mann in einem zerrissenen schwarzen Anzug. Der Lumpensammler. Er steht einfach nur da, den Kopf leicht gesenkt, sodass seine Augen im Schatten liegen. Langsam hebt er die Hand, deutet zuerst auf mich und dann, an mir vorbei, nach oben, zum Dach hinauf. Und ich werde von einem dieser unheimlichen Traummomente heimgesucht, in denen man alles infrage stellt, in denen man tatsächlich denkt, dies sei ein Traum, aber dann denkt man, nein, das ist alles zu real — die Angst, das Herzrasen, der Schweiß, der mir den Rücken hinunterläuft. Es muss wirklich sein.
    »Ich will nicht sterben«, sage ich.
    »Jeder muss sterben«, sagt der Lumpensammler. »Schau.«
     
    Mein Blick folgt seiner Geste, mit der er aufwärts und hinter mich deutet.
    Jack hockt auf einem Fenstersims, zusammengekauert wie ein Wasserspeier an einer Kathedrale, von den goldenen Flammen der Dämmerung umgeben; das Gesicht der sterbenden Sonne zugewandt, wärmt er sich an ihrem Schein. Wie wild und primitiv er in seiner tierischen Trance aussieht, wie ein Mensch aus der Urzeit! Eigentlich müsste er den Mond anheulen, ein zum Werwolf gewordener Höhlenbewohner. Ich möchte bei ihm sein, dort oben im Licht, und nicht hier unten in den düsteren Straßenschluchten dieser namenlosen Stadt, in einer Welt, die in die Brüche geht. Da begreife ich, dass die Menschen verschwinden, wenn die Schatten kommen, Straßen die Richtung ändern und Gebäude ihren Standort wechseln. Ich habe das Gefühl, kurz davor zu stehen, eine grundlegende Wahrheit über unsere Welt zu erfassen, über ihre im Fluss befindliche Gestalt. Da blickt Jack zu mir hinunter, und ich kann die Flammen sehen, die sich in seinen Augen spiegeln, und die Tränen, die seine Wangen netzen.
    Er steht langsam auf und tritt einen Schritt vor in die Leere.
     
    »Ist ja gut, ist ja gut«, sagt Annie.
    Sie hält mich eng umschlungen, ganz behutsam darauf bedacht, keinen zu großen Druck auf meine verletzte Schulter auszuüben, die dick verbunden ist. Ich schluchze an ihrer Brust, ein heulender Fünfjähriger, verängstigt und — obwohl ich von anderen umgeben bin, die auf der Ladefläche des Karrens sitzen, in einer Reihe nebeneinander wie Soldaten in einem Militärlastwagen, der an die Front fährt — allein.
    »Ich kann meine Mami nicht mehr finden.«
    Denn so sieht man das als Fünfjähriger: Du hast deine Eltern nie für immer verloren, du musst sie nur wiederfinden.
    »Ich weiß«, sagt Annie. »Das geht uns allen so. Aber immerhin haben wir uns, und alles wird gut. Jetzt bist du bei uns, und alles wird gut.«
    Der Karren schaukelt über die Brücke, an schon vor langer Zeit ausgebrannten Autowracks vorbei. Hinter uns legt sich die Nacht über die Stadt wie Dampf oder Rauch, wie ein aufziehendes Unwetter, unaufhaltsam.
     
     
    Herbstnachmittag
     
    Das Läuten des Lumpensammlers reißt mich aus einem leichten, traumerfüllten Schlaf. Ich bin sofort hellwach und ich habe Angst. Das Licht wird von den Musselinvorhängen gedämpft, in der Wohnung riecht es muffig, und mich schaudert in der herbstlich kalten Luft dieses Spätnachmittags. Ich weiß nicht, wie oft ich versucht habe, Jack dazu zu bewegen, irgendeine Art Heizung einzubauen oder auch nur die seit langem zersplitterten Fensterscheiben zu ersetzen. Wie aus Trotz weigert er sich. Manchmal habe ich den Eindruck, dass er mich absichtlich auf Abstand hält, mir buchstäblich die kalte Schulter zeigt. Dann wieder scheint er einfach nicht zu wissen, was Wärme überhaupt ist.
    Ich zittere jedenfalls.
     
    »Bist du wach?«, zische ich.
    Die Glocken am Karren des Lumpensammlers klingen unheimlicher als all die Glücksbringer, die unten am Strand aufgehängt sind. Sicher ist er nicht mehr weit von seiner Scheune entfernt, auf dem Rückweg von seiner Tour in die Stadt. Vielleicht hat er auch

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