Vellum: Roman (German Edition)
das ›Buch‹. Vielleicht stürzt Gott tatsächlich. Vielleicht bekommt Luzifer das ›Buch‹ in die Hände und schreibt die Wirklichkeit neu – so, wie er es für angemessen hält. Wie auch immer, das ›Buch‹ landet auf der Erde, wird versteckt oder geht verloren, für immer, und wartet doch nur auf den Tag, an dem es wiedergefunden wird. Verstaubt irgendwo in einer Bibliothek.«
»Wenn man also etwas verändert, was in dem ›Buch‹ geschrieben steht, verändert man die Wirklichkeit?«, sagt Puck.
»Ganz genau«, sage ich. »Streiche jemanden aus der Geschichte oder füge ihn dort ein, wohin er eigentlich nicht gehört.«
»Und was geschieht dann?«, fragt Jack.
»Das habe ich noch nicht entschieden«, sage ich. »Ich weiß, dass Engel wie Dämonen das ›Buch‹ suchen sollen. Ich könnte einen spannenden Abenteuerroman schreiben, wisst ihr? Ein ganz normaler Mensch findet das ›Buch‹ und wird in diese ganze kosmische Auseinandersetzung hineingezogen. Blonde blauäugige Helden und finstere Schurken und dergleichen mehr. Aber das ... das scheint mir doch ein wenig zu phantastisch.«
»Was ist daran verkehrt?«, sagt Puck. »Fantasy verkauft sich. Ich würde es kaufen. Das Ewige Stundenbuch von Guy Reynard. Cool.«
»Krieg ist nicht abenteuerlich«, sage ich. »An Krieg ist nichts Großartiges.«
»Red keinen Scheiß«, sagt Jack.
Er grinst, schnippt sein Zippo auf und zündet sich noch eine Zigarette an.
»Du hast echt keine Ahnung, Guy. Natürlich ist Krieg verdammt großartig. Flammenwerfer und Agent Orange. Entwaldungsbomben. Scheißgroßartig. Das ist das eigentlich Grauenhafte daran, Kumpel.«
»Jack«, sage ich, »manchmal mach ich mir Sorgen um dich.«
»Prost«, sagt er nur.
Die Suchmaschine
Ich folge dem Verlauf des Flusses der Raben und Könige mit dem Finger, fahre behutsam über das Pergament des ›Buches‹ und blicke auf seine Entsprechung in der Wirklichkeit hinab, durch den Glastisch, auf dem das ›Buch‹ ruht, durch die Glasplanken unter meinen Füßen, auf denen ich auf der Brücke des Schiffes stehe, durch die Wolken hinab auf den wirbelnden Schlamm und Schmutz eines Flusses. Ich bin dankbar, dass ich die Fäulnis aus dieser Höhe nicht mehr riechen kann. Mit der freien Hand greife ich hinüber, umfasse den Elfenbeingriff des Hebels und ziehe ihn zu mir heran. Das leise Summen des Motors der ›Suchmaschine‹ wird ein wenig höher, etwas lauter, als ihre gewaltigen Turbinen ihre Trägheit abstreifen und zum Leben erwachen. Kein Ruck ist spürbar, kein Schlingern, und in dieser Höhe ist es fast unmöglich, eine Veränderung der Welt unter mir wahrzunehmen. Nur die funkelnden Leuchtanzeigen der Skalen und Zeiger, die auf das Glas vor mir projiziert sind, weisen darauf hin, dass wir uns vorwärts bewegen; dass dieser Leviathan des Himmels aus seinem Schlummer erwacht und langsam und träge wie ein Saurier über die ozeanischen Wolken gleitet, dem Weg folgt, der mir im Ewigen Stundenbuch vorgezeichnet ist – nach Norden, immer nach Norden, dem Ende der Welt entgegen.
Von Größe und Design irgendwo zwischen einem Dampfschiff und einer Kathedrale, ist die Suchmaschine das Erzeugnis einer Technologie, die alles aus der Welt, aus der ich komme, weit übertrifft. Entdeckt habe ich sie in einer Stadt, die in ihrer Verlassenheit so überwältigend war, als sei sie überhaupt nie bewohnt gewesen; auf einem Liegeplatz zwischen etwa einem Dutzend anderer Schiffe derselben Bauweise, in einem Hafenviertel mit glänzenden grauen Lagerhäusern voller Stahlcontainer und Holzkisten, in Plastik eingeschlagenen Heuballen, riesigen Rollen Baumwoll- oder Seidenfaden, Behältern mit Zucker oder Tabak. In gewisser Hinsicht ist an der ganzen Szenerie nichts Ungewöhnliches – ein Kai oder Hafen wie jeder andere Kai oder Hafen, den ich auf meinen Reisen gesehen habe. Nur der schwarze, unbeschreiblich morastige Fluss und die großen massigen Himmelsschiffe, die wie Zeppeline in der Luft schwebten, über spiralförmigen silbernen Treppen mit der Erde verbunden, unterschied sie von allem, was ich bisher gesehen habe.
Ich habe keine Ahnung, wie diese Vehikel fliegen können. Würde ich sagen, sie hätten Flügel, dann wären das Flügel wie die eines Herrenhauses, und nicht wie die eines Flugzeugs. Aus dem eigentlichen Rumpf des Schiffes ragen Querschiffe, drei auf jeder Seite wie bei den Kreuzen in griechisch- oder russisch-orthodoxen Kirchen. Von unten sieht der
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