Vellum: Roman (German Edition)
Rumpf aus wie ein auf den Kopf gestelltes Gewölbe, wie der Brustkorb oder die Panzerung eines riesenhaften Tiers, er wölbt sich nach oben und öffnet sich zu mit Buntglasscheiben verzierten Säulengängen. Mit einer Brustwehr versehene Türme erheben sich über ihnen, mit riesigen Thuribula auf ihren Spitzen, aus denen blaugrauer Rauch aufsteigt, vermutlich ein Abfallprodukt ihres Antriebs, aber genau weiß ich es eigentlich nicht. Ich habe keine Ahnung, wie sich diese Schiffe in der Luft halten, gleichgültig gegenüber dem Zerren des Windes, oder wie sie so sanft vorwärts und rückwärts gleiten, aufwärts und abwärts, wenn man diesen oder jenen Hebel berührt. Glücklicherweise ist ihre Steuerung weniger undurchschaubar als ihre Konstruktion. Als ich endlich zu der Cockpitbrücke gelangte, die an der Spitze ihres Bugs befestigt ist wie die Geschützstellung eines Bombers im Zweiten Weltkrieg, sah ich am Fuß der Treppe, die in diesen gerippten Swimmingpool führte, in der Mitte dieser schwindelerregenden Glasschale voller Erleichterung nur einen tiefen grünen Ledersessel mit einem sichelförmigen Glastisch und Steuerpult und ein paar Räder und Bronzehebel mit Elfenbeingriff darum herum. Ich habe weniger als eine Woche gebraucht, um mit etwas Herumexperimentieren herauszubekommen, wie alles funktionierte. Ich muss sagen, dass ich von der eleganten Schlichtheit der Konstruktion ziemlich beeindruckt bin.
Und so bin ich jetzt wieder unterwegs, ein Dieb am Steuer eines weiteren gestohlenen Fahrzeugs. Zurück lasse ich wieder eine Wagenladung verschiedenster Dinge, die ich mir angeeignet hatte, Souvenire meiner scheinbar endlosen Reisen. Dieses Mal bedaure ich, ehrlich gesagt, kaum etwas.
Während der letzten paar Jahrhunderte ist es mir zunehmend schwer gefallen, die Erinnerungen an jene Welt zu bewahren, die ich so weit hinter mir gelassen habe, und ich begreife, dass es ein Fehler war, all diese verschiedenen Fetzen und Pergamente der anderen Wirklichkeiten zu sammeln, die ich durchquere – der Gegenden, denen ich den Namen ›die Falten‹ gegeben habe. Ich habe so viele Geburts- und Todesurkunden zusammengetragen, so viele Tagebücher und Photographien, Zeitungsausschnitte und dergleichen, die dem Anschein nach alle mit vielleicht eintausend unterschiedlichen Varianten auf mich – oder Jack oder Joey oder Thomas – Bezug nehmen, so viele und so vielfältig, dass die Umrisse dessen, der ich einmal war, der ich bin, der ich hätte werden können, allmählich unscharf werden. Zumindest glaube ich das, je länger ich mich mit alledem beschäftige. Vielleicht hatte ich gehofft, unter all den Übereinstimmungen und Unterschieden ein Muster zu entdecken, als sei diese ganze Reise mir von einer übergeordneten Macht als Lektion zugeteilt worden. Eine Zeit lang bin ich von der Theorie ausgegangen, dass alle Seelen eine solche Reise unternehmen, sich durch Welten treiben lassen, in denen sie vor anderen Entscheidungen stehen, sich ihnen andere Möglichkeiten bieten, sodass sie, wenn sie schließlich ihr Ziel erreichen, ganz genau verstehen, wer sie sind, weil sie wissen, wer sie nicht sind und warum. Jetzt allerdings ... manchmal bringe ich alles durcheinander. Ich vergesse, ob dieser oder jener Abschnitt eines Tagebuchs von mir geschrieben wurde oder von einem anderen Guy Reynard oder Reynard Carter – oder mit welchem verdammten Namen ich auch immer geboren wurde.
2
Große romantische Lügen
Der Pfad des Toten
Der Engel kommt nach Slab City, das am Jornada del Muerto liegt, am Pfad des Toten, der von Kern’s Gate in El Paso nordwärts verläuft, durch eine trockene Ebene aus Natron und Uran, Salz, Sand und Staub, und als sie aufblickt und ihn sieht, weiß sie sofort, dass er ein Engel ist, denn obwohl sie erst fünfzehn ist und einen wie ihn noch nie gesehen hat – einen von denen, die Finnan die ›Unkin‹ nennt, erkennt sie sofort, wonach sie Ausschau zu halten gelernt hat, dieses ganz besondere Zeichen, das Mal dieser Wesen, das ihnen eingeritzt ist – ihren Worten, ihren Taten, ihrem ganzen Dasein.
Fast jeder trägt dieses Zeichen, wie Finnan ihr erklärt hat, fast jeder und fast alles. Alles auf der Welt hat einen wahren Namen, einen Namen im Cant, der Sprache der Unkin, und Menschen sind da keine Ausnahme. Das Zeichen muss nicht äußerlich sein, obwohl manche Leute es in den Augen tragen oder auf der Haut, sodass jeder es sehen kann, ein in die Ferne gerichteter Blick, eine
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