Vellum: Roman (German Edition)
kalten, wissenden Mafiapose eigentlich gar nicht hier sind, nicht jetzt, sondern in einer anderen Zeit, dass sie hinter ihrem Bruder her sind, nicht hinter ihr. Sie kann das Entsetzen spüren, das in Thomas’ Brust brennt, rotglühend ... weißglühend.
Das Auto ist wirklich, der Augenblick hat keine Bedeutung, aber sie spürt den Widerhall eines anderen Augenblicks – jenes Augenblicks, als ihr Bruder aus dem Auto stieg, wo sie jetzt steht, und sich umdrehte, wie sie sich jetzt auch umdreht –
Als sie durch das fünfte Tor trat, wurde der goldene Armreif von ihrem Handgelenk genommen.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Inanna.
»Schweig, Inanna«, erhielt sie zur Antwort. »Die Bräuche der Stadt der Toten sind ohne Makel. Sie dürfen nicht angezweifelt werden.«
Es ist ganz in der Nähe. Sie spürt, wie sich die Wirklichkeit strafft, als sei die Welt nur eine Haut, durchscheinend, dünn, als welle sich das Vellum unterhalb dessen, was wirklich ist, unterhalb, danach, dahinter. Sie ist dem Weg gefolgt, den ihr Bruder in die Zeit gerissen hat, ist in seinem Kielwasser hin und her geworfen worden, hat die Wellen erklommen und sich zum Ausgangspunkt hin vorgearbeitet, dorthin, wo er durchgebrochen ist, wie ein Komet, der in den Ozean eintaucht. Und sie ist ... da.
Sie dreht sich um und sieht sich ihrem Ziel unmittelbar gegenüber.
Der Tattoosalon ist über und über mit psychedelischen Mustern verziert, die auf das Königsblau der Holzverkleidung und die Photos und Schautafeln im Fenster gemalt sind. Auf der Glasscheibe in der Tür prangt das Logo eines schwarzen Auges, kunstvoll und altertümlich wie ein Holzschnitt. IRIS TATTOOS. Nach diesem Laden hat sie gesucht. Wenn sie ihren Bruder finden will, wo auch immer oder wann auch immer er sich, zum Teufel, befinden mag ... dies ist die Tür, durch die sie treten muss.
Sie legt die Hand auf den Messingknauf, schließt ihre Finger darum, behutsam, angespannt. Sie hält inne.
Kling. Die Glocke über dem Eingang des Ladens läutet. Sie ist aus Messing wie der Griff, den sie nun dreht, um die alte Glastür wieder zu schließen. Die Scheibe erzittert in ihrem Rahmen.
Als sie durch das sechste Tor trat, wurden ihr Stab und Seil abgenommen.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Inanna.
»Schweig, Inanna«, erhielt sie zur Antwort. »Die Bräuche der Stadt der Toten sind ohne Makel. Sie dürfen nicht angezweifelt werden.«
Der Perlenvorhang klimpert leise, als sie den dunklen Raum betritt, in dem eine verschleierte Frau sitzt, aufblickt und in ihrer Arbeit innehält, eine surrende Tätowiernadel in den Händen. Eine andere Hand greift nach ihrem Arm – der Gehilfe.
Und als sie durch das siebente Tor trat, wurde ihr das herrschaftliche Gewand abgenommen.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Inanna.
»Schweig, Inanna«, erhielt sie zur Antwort. »Die Bräuche der Stadt der Toten sind ohne Makel. Sie dürfen nicht angezweifelt werden.«
»Wie bitte?«, fragt Phreedom.
»Ich habe gesagt, dass ihr nicht hereinkommen könnt. Madame Iris hat Kundschaft.«
»Mich wird sie empfangen«, sagt Phreedom.
Nackt und mit gesenktem Kopf
Nackt und mit gesenktem Kopf betrat Inanna den Thronsaal von Ereschkigal. Die Herrin der Großen Erde erhob sich, schreckte von ihrem Thron auf. Die Anunnaki, Richter der Unterwelt, kamen aus der Finsternis, die Inanna umgab, und sprachen ihr Urteil über sie. Ereschkigal, Herrin der Großen Erde, richtete den Todesblick auf sie. Sie sprach Worte des Zorns wider Inanna, stieß den Ruf nach Strafe gegen sie aus. Und als das Urteil und der Blick, der Zorn und die Strafe sie trafen, als die Finsternis sie traf, stürzte Inanna, und als sie sich wieder aus der Finsternis erhob, war sie eine kranke Frau. Die Richter packten sie wie ein Stück fauliges Fleisch, und wie ein Kadaver wurde sie an einen Pflock an der Wand gehängt.
Phreedom mustert die verschleierte Frau mit gelassener, grimmiger Gleichgültigkeit. Dem Gehilfen, der noch immer ihren Arm festhält, schenkt sie keine Beachtung. Für sie sieht Madame Iris eher wie Gypsy Rose Lee aus, wie eine billige Wahrsagerin und nicht wie eine Hüterin der Schwelle. Eine von den Scheißauserwählten. Lieber über einen verdammten Tattoosalon am Ende der Welt herrschen, als im Himmel zu dienen.
Die verschleierte Frau bedeutet ihrem Gehilfen zu gehen, flüstert ihrem Kunden etwas zu, der daraufhin durch den Vorhang verschwindet, und sagt: »Du bist gezeichnet, meine
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