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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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kleine Göttin. Ich sehe es auf dir .. in dir. Wofür brauchst du mich?«
    Sie spricht mit einem Akzent – entfernt europäischen Ursprungs, denkt Phreedom, aber sie kann ihn nicht ganz einordnen, eine merkwürdige Mischung aus gutturalem Germanisch und singendem Latein, und sie fragt sich, ob es in Wirklichkeit nur eine Affektiertheit ist wie ihr Schleier, eine Maske, die ihr etwas Geheimnisvolles verleihen soll. Madame Iris. Klar doch. Sie ist ganz eindeutig eine Unkin – sie strahlt eine Macht aus, von der Phreedom die Haut kribbelt wie von Hitze oder statischer Aufladung. Aber, bitte. Lass den Mumpitz, Schwester, denkt Phreedom.
    »Ich suche jemanden«, sagt sie.
    Sie greift in ihre Jacke nach ihrer Brieftasche, um ein Photo von ihm hervorzuholen, aber ihre Hand ist kaum zur Hälfte wieder heraus, da nickt die Frau schon.
    »Thomas«, sagt sie. »Dein Geliebter?«
    »Bruder.«
    Die Frau räuspert sich.
    »Du weißt, dass er fort ist. »Eingezogen, in das ...«
    »Vellum«, sagt sie. »Ich weiß.«
     
    Er sagte, dass sie ihn nicht finden würden, aber sie fanden ihn. Sie fanden ihn, und er konnte fliehen. Irgendwie ist er ihnen entkommen, hat sich auf die ein oder andere Weise davongemacht, die Bluthunde dicht auf den Fersen, hat es bis hierher geschafft, bis zu Madams Iris’ Tattoosalon im Zentrum von Asheville, wo die Grenze zwischen der Wirklichkeit und dem Vellum so dünn ist, dass man mit einem Fingernagel ein Tor zwischen dieser Welt und der darunter liegenden hineinkratzen könnte.
    »Ich weiß, dass er fort ist«, sagt sie, und ihre Stimme ist rau vor Erinnerungen. »Das heißt aber nicht, dass ich ihm nicht folgen kann.«
    Für einen Augenblick schweigt Madame Iris.
    »Wohin Engel sich nicht wagen, was? Du weißt, dass das eine Straße ohne Wiederkehr ist.«
    »Das ist mir egal.«
     
    Und Phreedom weiß, dass sie die Wahrheit sagt. Unter der Trauer und der Wut und all der Verbitterung, die sie antreiben, verbirgt sich – nichts. Der eigentliche Kummer, der eigentliche Zorn gilt dem, was ihr aus dem Herzen geschnitten wurde. Die Schmerzen, die sie hegt und pflegt, wenn sie nachts in einem Hotelzimmer wach liegt, sind nur ein ... schwacher Ersatz für die Schmerzen, die sie eigentlich empfinden müsste. Doch dazu ist sie einfach nicht in der Lage, nicht mehr. Wie ein Stück Schlachtfleisch, das zum Ausbluten aufgehängt wurde, ist sie ihrer Würde beraubt, gehäutet und ausgeweidet, innerlich tot. Sie gehört in die Hölle, ein Kadaver, der an einem eisernen Nagel an der Wand hängt.
    »Ich werde auf die andere Seite hinüberwechseln«, sagt Phreedom.
    »Du bist bereits dort«, sagt Madame Iris, jetzt ohne Akzent, und lüftet den Schleier. Zum Vorschein kommt das Gesicht, das Phreedom im Spiegel sieht.
     
     
    Phreedom vor den Toren der Hölle
     
    Phreedom stellt sich unter die Dusche, zieht die durchsichtige Trennwand hinter sich zu und schüttelt ihr Haar unter dem Wasser aus. Sie spürt, wie der Schweiß und der Schmutz von ihrem Körper abgewaschen und die Müdigkeit aus ihren Knochen gespült wird. Sie schließt die Augen, verschließt ihren Verstand und lässt das Wasser alles forttragen, all die ekelhaften Erinnerungen, den Staub ihrer Persönlichkeit, lässt ihre Hände schäumen und schrubben, mit militärischer Gründlichkeit ihren Körper bearbeiten, jeden Teil von ihr reinigen. Und wenn sie es dann endlich genießt, wenn sie sich unter dem warmen Wasser entspannt und es genießt, wie es langsam und lindernd über ihre Haut läuft, dann auf eine abstrakte Weise, als nehme sie aus großer Ferne und völlig mechanisch einen Gegenstand mit der Aufschrift ›Vergnügen‹ wahr, ohne sich seiner wirklich bewusst zu sein.
     
    Denn wenn sie sich seiner bewusst wäre, dann würde sie sich vielleicht daran erinnern, wie sie ein anderes Mal unter der Dusche stand und sich wieder und wieder abschrubbte, bis Blut und Tränen mit dem Wasser den Abfluss hinunterflossen. Doch ganz gleich, wie sehr sie schrubbte, den Schmutz von ihrer Seele bekam sie nicht herunter, sie konnte den schwarzen Schmutz des gottverdammten Engels nicht aus ihrem Kopf bekommen, aus ihrem Herzen, aus ihrer Möse und aus allen anderen Stellen, wo er mit seinen Fingern in sie eingedrungen war und mit seinen Worten und seinem Schwanz, und schlussendlich saß sie einfach nur da, die Arme um sich geschlungen, und blutete aus den Wunden, die der Engel ihr beigebracht, und aus den Wunden, die sie sich selbst beigebracht hatte.

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