Vellum: Roman (German Edition)
Narbe von einer Messerverletzung oder eine Tätowierung. Zu einer Prägung – zu einem Namen, den man lesen und den man sich vielleicht sogar zunutze machen kann – wird es jedoch erst, wenn es ganz dicht unter der Oberfläche liegt, irgendetwas muss geschehen sein, das es zum Vorschein gebracht hat, auf der Oberfläche der Wirklichkeit hat sich eine Schwellung gebildet. Dieses Zeichen bekommst du aus einem ganz bestimmten Grund, wenn überhaupt – vielleicht, wenn du das erste Mal vögelst; vielleicht, wenn du das erste Mal tötest; so oder so ist es dein ganz persönliches Zeichen, das bist du, dieser geheime Name, der dir genau in jenem Augenblick ins Bewusstsein geritzt wird, wenn dir plötzlich, unwiderruflich klar wird: Ich weiß, was ich bin. Das dauert nur einen Augenblick, an einem Tag wie jedem anderen, wie heute, dem 12. April 2014. Doch was an diesem Tag geschieht, prägt dich für den Rest deines Lebens, sagt Finnan, und vielleicht sogar noch länger.
Natürlich hat sie selbst noch keine Prägung, also kann sie sich nicht sicher sein, ob er sie nicht nur verscheißert. Als er ihr das alles zum ersten Mal erzählte, hat sie ihm das ins Gesicht gesagt, in ihrer vulgären, ungehobelten Ausdrucksweise. Aber ... aber seither hat Finnan ihr beigebracht, wie man diese geheimen Namen daran erkennt, wie jemand rasch zur Seite blickt, das Kinn vorschiebt, die Schulter hochzieht, mit dem Fingerknöchel auf den Tisch klopft. Bei den meisten Leuten ist es, als ob ein Spieler sich verriete – eine nebensächliche Eigenheit, die einen Hinweis darauf ist, was für ein Blatt er auf der Hand hat, welche Strategie er anwendet. Doch bei anderen ist dieses Mal etwas bestimmter und etwas eindeutiger. Sie tragen es wie eine Aura, es umgibt sie wie ein Flimmern, geht ihnen voraus, Köpfe drehen sich nach ihnen um, wenn sie einen Raum betreten, Unterhaltungen brechen ab. Fast jeder hat irgendeine Art von Zeichen, zugegeben. Aber nicht allen ist es so tief eingeprägt, dass es wirklich durch sie hindurchgeht, unter die eigentliche Haut der Wirklichkeit. Nicht jeder verfügt über den Cant.
Sie weiß, dass er ein Engel ist, ganz ohne Frage. Sie weiß, dass er den Unkin angehört. Beinahe konnte sie es in der matten Wüstenluft riechen, noch bevor er über der niedrigen Kuppe des Jesus Hill in Sichtweite kam.
Er ist schwarz; erst glaubt sie, es sei nur sein Schatten, aber nein, die Sonne steht im Osten, hat ihren höchsten Punkt noch nicht erreicht, und er kommt aus dem Süden, also hat er sie nicht im Rücken. Auf dem Hügelkamm bleibt er eine Weile unter einem Querbalken des großen Holzkreuzes stehen, wie ein Mann, der darauf wartet, gehängt zu werden, und in aller Ruhe die Zuschauer mustert. Obwohl die Luft um ihn herum flimmert, sieht sie ihn plötzlich ganz scharf, seine schwarzen Lederklamotten, seine schwarze Lederhaut, seine Dreadlocks und seinen Spitzbart, seine tiefliegenden Augen mit den schweren Lidern. In einer Hand hält er etwas, das nach einem kleinen, aber schweren und in Leder gebundenen Buch aussieht. Während ein paar Hunde bellen, die hier und dort an die Wohnwagen ihrer Besitzer gekettet sind, und irgendwo ›Crawling King Snake‹ aus einem blechernen Radio ertönt, hört sie deutlich, wie er dem Wind zuflüstert: Finnan.
Jesus Hill
»Das ist das erste Mal, dass ich jemanden zu Fuß nach Slab City kommen seh«, sagt eine freundliche Stimme hinter ihr.
»Morgen, Mac«, sagt sie. »Vielleicht ... äh, vielleicht hatte er eine Panne ... oder so.«
Sie ist ziemlich sicher, dass das der Wahrheit nicht besonders nahe kommt, aber Mac gegenüber will sie das Thema Unkin nicht anschneiden. Mac ist eine sonderbare Mischung aus einem christlichen Evangelisten alter Schule und einem auf LSD durchgeknallten Blumenkind. Er hat es nie zu einem geistlichen Amt gebracht, weil er für einen orthodoxen Glauben einfach etwas zu exzentrisch ist. Stattdessen hat er seine Berufung selbst in die Hand genommen, auf seine ganz eigene Art. Er hat sich vorgenommen, einen Hügel zu bemalen.
Angefangen hatte er damit, noch bevor sie geboren wurde, noch bevor ihre Eltern sich ihrem halbnomadischen Lebensstil zuwandten. Schon so lange, wie die Leute hier zurückdenken können, bemalt er eine Seite des flachen Hügels, der südlich von Slab City liegt, verziert ihn Zentimeter um Zentimeter mit Weiß und Pink, Maisgelb und Himmelblau, mit riesigen Herzen und gewaltigen Blumen. Ursprünglich hatte
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